„Hochbegabung“ ist Bullshit

Unkritische Artikel über Bildung in der „Zeit“ sind wir ja schon gewohnt – vor kurzem kam noch einer zu einem der aktuellsten Bildungs-Buzzwords dazu. „Inklusion“ ist derzeit nicht nur in aller Munde, sondern wurde in einigen Bundesländern auch schon den Schulen als Aufgabe übertragen. Konkret heißt das z. B. in Bremen, daß Sonderschulen aufgelöst wurden und deren Schüler an normalen Schulen gemeinsam mit allen anderen Schülern unterrichtet werden. Ein solches Konzept bedeutet natürlich, daß man zusätzlich zu den für solche Aufgaben nicht ausgebildeten Lehrern entweder weitere spezielle Lehrkräfte oder Sozial­arbeiter, -pädagogen und Psychologen in den Schulen braucht. Und die kosten Geld – Geld, das kaum eine Schul­behörde hat. Oder besser gesagt: Geld, das kaum eine Regierung für Bildung ausgeben will.

Ein Aspekt der Inklusion ist die Integration sogenannter „hochbegabter“ Kinder. An einer Bremer Oberschule wird das in einem Projekt besonders gefördert, angeblich „an einer weiterführenden Schule bundesweit einmalig“. Zur Verfügung stehe der Schule die Beratung einer Professorin für inklusive Pädagogik der Uni Bremen und die der Karg-Stiftung für Hochbegabtenförderung. Ein erstes Problem, vor dem eine Schule steht, ist eventuell bereits herauszufinden, wer denn überhaupt hochbegabt ist. Glaubt man dem „Zeit“-Artikel, ist das recht einfach: Wer einen IQ von über 130 Punkten hat, ist per Definition hochbegabt. Auch die Karg-Stiftung, die sich ja ganz diesem Thema widmet, kommt auf den ersten Blick nicht über IQ und „kogni­tive Höchstleistungen“ als Vorstellung davon hinaus, was man sich unter den Anzeichen einer Hochbega­bung denn vorzustellen habe.

Nun bewegt sich der IQ auf einer eindimensionalen Punkteskala, und auch „kognitive Höchstleistungen“ heißen nichts anderes, als daß jemand etwas mehr, schneller oder länger kann als jemand anders. Dahinter steckt mehr als der nur allzu verbreitete Irrglaube, daß man, kaum daß man irgendetwas messen kann, schon etwas Relevantes entdeckt habe. Es steckt auch eine Theorie des Lernens bzw. des Wissens dahinter, die mit dem anschaulichen Begriff „Kübeltheorie“ bezeichnet wird: Demnach sei Wissen etwas, das in ver­schiedenen Menschen in geringeren und größeren Mengen vorhanden ist und das sowohl durch die Sinne aufgenommen als auch auf diese Weise vermittelt werden könne.

Das Problem ist gerade, daß man denkt, „Hochbegabte“ müßten mehr gefördert werden als andere – durch mehr „Aufgaben“ usw.:

Zu Beginn eines Halbjahrs verteilen die Lehrer sogenannte Lernlandkarten, auf denen die wichtigsten Lernziele der kommenden Monate dargestellt sind. Das soll den Schülern helfen, einen Überblick über die anstehenden Themen zu bekommen und sich realistische Ziele zu setzen. In bunten Fenstern sind verschiedene Leistungsniveaus zusammen­gefasst, die Schüler im Lauf eines Halbjahrs erreichen können. Für Schüler, die früher eine Sonderschule besucht hätten, gelten andere Unterrichtsziele als für durchschnittliche Schüler, während die Hochbegabten bei Bedarf neue Aufgaben erhalten.

Und genau das zeigt, was an unserem Bildungssystem komplett kaputt ist: Die angeblich „Hochbegabten“ fallen deswegen auf, weil sie entweder schneller durch all die Reifen springen, die man den Schülern hinhält, oder weil sie vor keine ernsthaften Herausforderungen gestellt werden. Dann schalten sie ab, rebellieren oder tun irgendetwas, was ihnen tatsächlich Spaß macht – und das ist in aller Regel etwas, das in der Schule „stört“. Fällt uns daran etwas auf?

Wer erstellt z. B. diese Lernlandkarten? Sind die rein von der Schule vorgegeben? Oder haben die Schüler die Chance, ein echtes Interesse daran zu entwickeln, eigene Ziele zu erreichen? Wenn Themen „anstehen“, wie das hier verräterisch formuliert ist, dann handelt es sich in aller Regel um „Stoff“, der „vermittelt“ wird. Und das ist nichts anderes als der Nürnberger Trichter, gegen den wir doch angeblich alle sind. Und wenn jemand von „verschiedenen Leistungsniveaus“ faselt, die man „erreichen“ könne, bleibt einem ob der un­kritischen Haltung gegenüber diesen Begriffen erstmal länger die Spucke weg. Die „verschiedenen Niveaus“ bedeuten ganz einfach die Bewegung auf einer eindimensionalen Skala: Manche erledigen schneller, mit weniger Fehlern etc., was ihnen aufgetragen wird. Und „Leistung“ bedeutet hier: Das einfach an der Skala ablesbare Maß, in dem ein Schüler die ihm vorgesetzen „Aufgaben“ erledigt hat.

Sprich: All das ist vom System her nichts anderes als die traditionelle Paukschule, in der man „Stoff“ vor­gesetzt bekommt und die einem sagt: Friß, Vogel, oder stirb. Nur daß wir uns heute schon ganz toll dafür finden, daß wir dem Vogel drei Menüs zur Auswahl geben – bevor wir ihn zum Fressen zwingen. Diese Art von „Begabtenförderung“, wo „die Hochbegabten bei Bedarf neue Aufgaben erhalten“, gab es bei uns früher schon in der Grundschule: Wer die Rechenzettel in Mathe schneller fertig hatte als andere, bekam halt neue. Worauf das hinausläuft, ist allerdings nur, daß alle in etwa gleich lang beschäftigt sind. Nur mit der Förderung von Begabung hat das nichts zu tun.

Und noch etwas scheint bei der Beschreibung des „hochbegabten“ Felix aus Bremen durch: Es geht allzu häufig um die Förderung ziemlich radikaler Individualität. Soweit überhaupt echte eigene Ideen verfolgt werden, sind die anscheinend eher Selbstzweck und dienen der Selbstdarstellung:

Stattdessen widmet er sich, wenn er die Schulaufgaben erledigt hat, eigenen Forschungs­projekten. Er hat die Bedeutung des Karfreitags recherchiert und die Kultur Portugals, gerade hat er eine Präsentation über die Geschichte des Internets vorbereitet.

Und wie die Präsentationen aussehen, kann man sich nach dieser Beschreibung auch schon denken: „Heute möchte ich Euch etwas über die Bedeutung des Karfreitags erzählen…“ Als ob es die Bedeutung gäbe, oder die Geschichte des Internet, die sich dann jeweils in einer Präsentation darstellen ließen. Was man dabei erwartet, sind aus verschiedenen Quellen zusammengetragene „Fakten“, die ein möglichst „objektives“ (also der vorherrschenden Meinung entsprechendes) Bild zeichnen sollen – das man dann schön einfach benoten kann. Wie auch sonst beinahe überall geht es um das tatsächlich Wichtigste gerade nicht: daß andere etwas lernen. Anscheinend emblematisch ist das Zitat von Felix bei der Auswahl eines Lösungsvorschlags in einer Gruppe, in der die anderen zurückhaltend sind: „Okay, wir nehmen einfach meinen“, sagt Felix.

Wenn es irgendetwas gibt, das den Zielen der Schule diametral entgegensteht, dann die Berufung auf bzw. das Ausspielen von Autorität in Lernfragen – und sei es die Autorität des „Hochbegabten“, dessen Kübel einfach schon höher gefüllt ist. Anders gesagt: Wenn Inklusion nicht darin besteht, daß diejenigen, die ein interessantes Problem entdeckt und verstanden haben, dazu beitragen, daß alle anderen es ebenfalls verstehen, dann kann man eine ja nicht umsonst allgemeinbildende Schule zumachen.

Und noch anders gesagt: Mit „Inklusion“ hat all das eigentlich nichts zu tun. Womit es hingegen zu tun haben sollte, ist, daß wir daraus lernen, daß die bisher typische Schule, in der ständig Antworten auf Fragen gegeben werden, die niemand gestellt hat, dringend abgeschafft werden muß. Schüler, die wie dressierte Affen „Aufgaben“ erledigen, sind eine Schande für eine angeblich aufgeklärte Gesellschaft. Und mehr als eine Schande ist eine „Leistung“sdefinition, bei der es immer um Eigennutz für den Wettbewerb um Noten geht.

Hochbegabt? Wer heute so betitelt wird, ist gut darin, vorgegebene Aufgaben schnell und effizient zu erfüllen. Wer sich in der Schulpraxis einmal die Mühe macht, Schüler vor echte Probleme zu stellen, sieht schnell, daß da alle nur mit Wasser kochen. Echtes Erklären echter Probleme ist schwer, und es fällt so ziemlich allen in etwa gleich schwer. Das, war wir heute sehr unkritisch für „Hochbegabung“ halten, ist letztlich nichts als ein Artefakt unserer Vorstellungen von „Leistung“ und dem angeblichen Selektionsauftrag der Schule. Je eher wir beides aufgeben, desto eher haben wir auch echte Inklusion an Schulen: die, die darauf abzielt, alle zu ernsthaft mündigen Bürgern zu machen.

4 comments

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    • Timbo on 25. November 2013 at 10:35
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    Zunächst mal: Hochbegabung ist kein Bullshit. Die Inklusion ist es. Die Illusion, dass Mehrbeschäftigung gleich Förderung bedeutet ist eben quatsch, wie du ja treffend feststellst. Oft, auch das ist richtig, werden hochbegabte mit ADHSlern verwechselt. Kein Wunder, die Symptomatik ist in weiten Teilen identisch, so weit es das abschneiden in der Schule angeht. Aber es gibt eben diese 2,2 % der Menschen, bei denen Konzentrationsmangel nicht mit Hyperaktivität zu erklären ist. It needs one to know one. Ich, als jemand der am sog. Mensa-Kriterium nur haarscharf vorbei schrammt, war bestenfalls mittelmäßig als Schüler, bei jedoch maximaler Arbeitsverweigerung. Ohne jemals auch nur einen Stratz zu lernen schrieb ich immer noch 2en und 3en, sehr oft auch 1en. Das fiel allen auf, das fanden alle seltsam, aber einen Reim drauf machen konnten sie sich nicht. Dann hieß es: Würde der mitarbeiten schriebe der nur Einsen. Der könnte wenn er wollte. Der Bub is faul. Thema beendet. Aber ich war nicht faul. Ich war bestenfalls mäßig interessiert. Inklusion bedeutet halt eben genau das: Eine Schublade zu bauen die groß genug ist dass Menschen, die nicht in eine Schublade passen, eben auch irgendwie rein gestopft werden müssen.

      • PeterM on 7. January 2014 at 16:30
        Author

      Das einzige, was Du jetzt über „Hochbegabung“ gesagt hast, ist allerdings, daß so jemand (wie Du), der durchschaut, daß da nur langweiliges Zeug abläuft, a) gelangweilt ist und b) ohne viel Aufwand mitkommt oder sogar gut ist. Und genau darüber habe ich geschrieben: Dieses Phä­nomen ist ein Artefakt der Art, wie wir Schule machen – langweilig und nach der Kübeltheorie des Lernens. Jemand, der da auffällt, ist in keinem interessanten Sinn „hochbegabt“, sondern zeigt nur, wie kaputt das System ist, das auch für alle anderen nicht funktioniert – nur (bei) denen fällt es nicht auf.

  1. Vielen Dank für diese harsche Kritik!

    Zur Metaphorik des Begriffs “Leistungsniveau” ließe sich noch manches sagen. Es ist ja keine “schneller”-Metapher, wie beim 100-Meter-Lauf. Sondern es ist eine oben/unten-Metapher der gesellschaft­lichen Schichtung, so wie “Einkommensniveau”. Managergehälter werden ja heute (ganz aktuell, glaube ich) so kritisiert, dass die unterschiedlichen Einkommensniveaus von Managern und anderen Angestellten nicht den Leistungsniveaus entsprechen und daher ungerecht seien. Was aber unterschwellig propagiert wird, wenn man von Leistungsniveaus in der Schule spricht, ist die gesellschaftliche Schichtung in oben und unten. (Dass es keinen Zusammenhang zwischen Schulnoten [oder IQ] und Schicht­zugehörigkeit gibt, muss man dabei ignorieren, sonst funktioniert die Ideologie der “Leistungsgesellschaft” nicht mehr.)

    Dass heute der Vogel drei Menüs zur Auswahl bekäme, muss man sich wohl eher so vorstellen: Die Vögel ganz unten bekommen das Menü Kartoffelbrei, die Vögel darüber bekommen Kartoffelbrei mit Erbsen und Möhren, und die Vögel auf dem obersten Niveau bekommen Kartoffelbrei mit Erbsen und Möhren und ein saftiges Hacksteak. Und wenn sie’s schnell verschlungen haben, gibt’s Erdbeeren mit Schlagsahne als Nachtisch. Aber glücklicherweise werden die Lehrer und Hilfskräfte ja heute in die Lage versetzt, auch den Schülern auf den unteren Ebenen dabei zu helfen, den bloßen Kartoffelbrei runterzuwürgen.

    Zuletzt noch eine skeptische Anmerkung: Wir wissen nicht, ob der Zeit-Artikel das auch nur einigermaßen realitätsgetreu wiedergibt, was da an Inklusion passiert. Dass Journalisten nicht erkennen können, worin der inklusionistische Ansatz besteht, weil in ihrer eigenen Vorstellungswelt Schule ein Trichter ist, ist ja nicht gerade unwahrscheinlich. Vielleicht gibt es also ganz tolle Bemühungen an jener Schule, nur konnten die nicht bis zu den Zeit-Lesern vermittelt werden.

      • PeterM on 7. January 2014 at 16:39
        Author

      Die skeptische Anmerkung ist natürlich absolut gerechtfertigt. Deswegen hatte ich mir im Text Mühe gegeben zu sagen: Wenn man so Inklusion macht, dann ist das aus diesen und jenen Gründen Quatsch. Allerdings habe ich mir natürlich auch die Webseiten der Schule, der KARG-Stiftung und der wissenschaftlichen Beraterin angeschaut, und dort findet man leider auch nichts, was über Platitüden hinausgeht.

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