Warum Faust? – Schule als Lernanstalt

Erschienen in „Neues Deutschland“ am 23.9.2011.

Beim Thema Bildung kann bekanntlich jeder mitreden. Jeder war einmal in einer Schule, also weiß auch jeder, wie Schule funktioniert. Alle Beteiligten haben ihre festen Rollen: Die Lehrer vermitteln, was ihnen von der Schulbehörde vorgegeben wird, und die Schüler nehmen den Stoff auf und geben ihn zu bestimmten Zeitpunkten wieder, um zu zeigen, wieviel des Gelehrten sie verinnerlicht haben. Der Dreh- und Angelpunkt ist dabei immer derselbe: In der Schule geht es darum, was gelehrt wird – die Schule ist schließlich eine Lehranstalt.

In den letzten Jahren ist insbesondere aus Richtung der Politik ein Aspekt hinzugetreten, der zwar eine gewisse Schizophrenie entstehen lässt, der aber – politikgerecht – in griffige Formeln passt: „lebenslanges Lernen“ und „lernen lernen“. Das klingt gut, und die Verantwortung dafür, diese Worte mit Inhalt zu füllen und sie dann auch umzusetzen, lässt sich umstandslos an die Schule delegieren. Deren Lehrer werden aber immer noch dazu ausgebildet zu wissen, wie man lehrt – und kaum, wie man lernt. Und deren Lehrpläne (welch verräterisches Wort) bedienen sich zwar der Formelsprache des Lernens, indem sie zu erreichende „Kompetenzen“ und ähnliches vorgeben, aber die heben sich dann in ihrer fast zwanghaften Detailliertheit auch nicht vom Rest des „Stoffs“ ab, den zu lehren der Plan vorgibt. Das Vorbild ist Fast Food: kaum Aus­wahl, genormte Inhalte, und man wird zwar kurz satt, kriegt aber hinterher Pickel.

Ein Beispiel für die schizophrenen Ansprüche an die Schule ist ein Artikel von Gerd Nowakowski im Berliner „Tagesspiegel“, in dem er beschreibt, dass viele Eltern an der Qualität Berliner Schulen zweifeln – konkret an der Erfahrung mit dem sogenannten jahrgangsübergreifenden Lernen, bei dem z.B. Schüler aus Klasse 3 und 4 gemeinsamen Unterricht haben. Was die Eltern bewegt? „[D]ass beim jahrgangsübergreifenden Ler­nen die Kinder unfreiwillig zu Hilfslehrern gemacht werden, weil die versprochenen Zusatzkräfte fehlen […].“

Der Unmut über mangelnde Mittel ist in der Tat verständlich. Erstaunlich ist allerdings, dass noch nicht auf­gefallen ist, dass das jahrgangsübergreifende Lernen eine ganz offensichtliche Stärke haben könnte: Es ermöglicht fortgeschrittenen Schülern, anderen zu helfen (Gemeinschaftsbildung in zweierlei Sinn) und das eigene Wissen dadurch zu stärken, dass sie es noch einmal aus einer anderen Perspektive zugänglich machen müssen. Nicht umsonst heißt es, man kann erst sicher, was man auch anderen beibringen kann. Wer zum Hilfslehrer taugt, hat also offensichtlich sogar mehr gelernt als in bisherigen Schulformen.

Ein zweites Beispiel für die Spaltung des Denkens über Bildung findet sich in einem Interview in der „Zeit“ mit dem Berliner Erziehungswissenschaftler Heinz-Elmar Tenorth. Anfangs äußert Tenorth sich noch recht pro­gressiv über die Ziele von Bildung, zu denen die reine Wissensvermittlung gerade nicht gehöre: „Bildung ist das, was übrig bleibt, wenn wir alles vergessen haben, was wir in der Schule gelernt haben.“ Auch hier bleiben Zweifel, wie zum Beispiel, ob nicht vielleicht doch Methodiken und Erkenntnisse, die einem ganz neue Bereiche der intellektuellen Welt erschließen, zur Bildung gehören und hängenbleiben sollten, weil sie allgemeingültig und wiederverwendbar sind. Aber lassen wir solche Details erst einmal beiseite.

Eh man sich’s versieht, macht Tenorth nämlich schon eine Kehrtwende: Hatte er sich gerade noch gegen die Forderung an die Schule verwahrt, „sich mehr mit dem nachhaltigen Lehren von Basiswissen“ zu befassen, sagt er nun selbst, man müsse „für die einzelnen Fächer ein verpflichtendes Kerncurriculum festlegen“. Auf dem Tisch ist damit der gute alte Bildungskanon, die so ziemlich reaktionärste Idee, die man sich in der Schule vorstellen kann. Von der Wiedereinführung des Züchtigungs­rechts eventuell abgesehen.

Und wer hat auch jemals eine Begründung für einen solchen Kanon geben können, die nicht an den fol­genden Fragen scheitern muss: Hängt irgendetwas Entscheidendes davon ab, dass jeder den Umgang mit großen Ideen und Schauspielen an Goethes Faust gelernt haben muss? Oder an Schillers Tell? Oder ge­rade nicht am Tell, weil der nicht im Kanon ist? Wer entscheidet, was in den Kanon kommt und warum? Ist es möglicherweise viel wichtiger, nicht genau das gelesen zu haben, was alle anderen auch gelesen haben – um sich dann hinterher über die verschiedenen Lektüren tatsächlich gegenseitig etwas zu sagen zu haben? Und was trägt wohl mehr zum Erhalt einer breiten Kultur bei: ein notwendigerweise enger Kanon oder eine von vergleichbaren Erkenntnis­interessen geleitete Sicht auf die gesamte Kultur?

Weiter geht die Diskussion mit noch etwas, das laut Tenorth ja gar nicht übrigbleiben muss: sogenanntes „Basiswissen“. Um das sei es, so Tenorth, bei den meisten Schülern „auch im internationalen Vergleich nicht schlecht bestellt“. Die Frage, ob Bildung denn tatsächlich primär ein Wettbewerb sein sollte und ob die wissenschaftliche Forschung zu dieser Frage eventuell längst eine Antwort gefunden hat, bleibt aber leider unbeantwortet. (Sie hat, und die Antwort ist: Wettbewerb ist meist fürs Lernen aktiv hinderlich.) Und wie kann es sein, dass es bei vielen der laut Tenorth doch „recht gut bedienten“ Schüler auch bei elementaren Kul­turtechniken hapert? Kopfrechnen, Prozentrechnung, grundlegende Wahrscheinlichkeiten – mehr als häufig Fehlanzeige. Ohne größere psychische Qualen einen effektiven Gebrauchstext herstellen – für viele ein Alb­traum. Oder gar ein reales Problem aus einem Fach charakterisieren, Lösungen dafür suchen und die dann anhand ihrer Konsequenzen kritisch und ergebnisoffen vergleichen? Nein, das wäre ja schon Universitäts­niveau, das können Schüler eh nicht.

Vielleicht sind diese Dinge auch schon viel zu lebensnah. Denn der Gipfel von Tenorths Ausführungen ist es, auch noch die nagendste Befürchtung aller Schüler zu bestätigen – dass der Spruch „Wir lernen nicht für die Schule, sondern fürs Leben“ bestenfalls Heuchelei ist: „Wenn man in die Schule eintritt, braucht man etwas wirklich Fremdes, um zu merken, dass man in der Bildungswelt ist.“ Na, da wird sich die Schule aber freuen, dass sie endlich einmal etwas tun soll, worin sie schon seit Ewigkeiten glänzt: den Schülern den Eindruck geben, dass sie mit der echten Welt nichts zu tun hat. Dass Bildung etwas ist, das nur in der Schule statt­findet. Und daraus ziehen dann auch viele die völlig logische Konsequenz und wollen nach dem Abschluss nichts mehr mit Lernen (diesem Kinderkram) zu tun haben.

Wer der Schule und unserer Bildung wirklich etwas Gutes tun will, der sollte sich zuerst von der Idee lösen, dass es primär darum geht, was wir lehren, welchen Stoff wir vorgeben, und dass der für alle gleich sein muss – am besten maschinell bewertbar. All das hat mit dem Ziel von Bildung nichts zu tun: lernen für ein erfüllendes Leben. In diesem Sinne sollten wir Schulen als etwas konsequent Neues sehen: nicht als Lehr-, sondern als Lernanstalten.

6 comments

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    • Fred-Erik on 29. September 2011 at 05:50
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    Erstaunlich ist allerdings, dass noch nicht auf­gefallen ist, dass das jahrgangsübergreifende Lernen eine ganz offensichtliche Stärke haben könnte: Es ermöglicht fortgeschrittenen Schülern, anderen zu helfen (Gemeinschaftsbildung in zweierlei Sinn) und das eigene Wissen dadurch zu stärken, dass sie es noch einmal aus einer anderen Perspektive zugänglich machen müssen.

    Ein Vorteil der Gesamtschulen, bei der Haupt-, Real-, und Oberstufenschüler bis zur 9. bzw. 10. Klasse zusammen lernen. Man kann anderen etwas beibringen, und merkt erst dann, ob man es wirklich verstan­den hat. Fehlen Informationen, gibt es immer noch die Lehr(n)kraft, die einem weiterhilft.

    Hängt irgendetwas Entscheidendes davon ab, dass jeder den Umgang mit großen Ideen und Schauspielen an Goethes Faust gelernt haben muss?

    Woyzeck hängt mir zum Halse raus. Und beim Hauptmann von Köpenick habe ich immer noch die Kom­men­tare meiner Lehrerin im Kopf, wenn ich ihn lese.

    „Wenn man in die Schule eintritt, braucht man etwas wirklich Fremdes, um zu merken, dass man in der Bildungswelt ist.“ Na, da wird sich die Schule aber freuen, dass sie endlich einmal etwas tun soll, worin sie schon seit Ewigkeiten glänzt: den Schülern den Eindruck geben, dass sie mit der echten Welt nichts zu tun hat.

    Ein Gedanke, der währen meiner gesamten Oberstufenzeit im Kopf als roter Faden vorhanden war. „Warum muss ich das alles lernen? Wofür brauche ich das im realen Leben? Was interessiert mich das Volumen der Butter, die ich kaufe?“

      • PeterM on 29. September 2011 at 09:18
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      Was sollte man denn statt des üblicherweise in der Schule Gelehrten lernen? Hat der Faden bis zu der Frage gereicht? ;>

  1. Der Bildungskanon ist in Deutschland zur Zeit wirklich einfach nicht aus der Debatte wegzudenken. Er wird – wie Tenorth hier ja auch deutlich macht – einfach implizit angenommen und kann nicht in Frage gestellt werden. Daran scheitert dann wahrscheinlich auch jeder Ansatz zur Reform des Bildungssystems.

    Vorzuschlagen, dass Goethes Faust u.U. gar nicht notwendiger Lesestoff ist, grenzt dann auch schon an Frevel, die Forderung ist einfach komplett unverständlich. Und aufgrund der zirkulären Definition von Bil­dungskanon kann man hier auch gar nicht debattieren.

    Mir fällt dafür leider auch keine gute Lösung ein, denn wer es wagt, den Bildungskanon in Frage zu stellen, disqualifiziert sich leider in der öffentlichen Debatte als radikal und inakzeptabel. Ohne, dass er überhaupt eine Chance bekommt, seine Argumente darzulegen (bzw. den status quo zu hinterfragen).

      • PeterM on 3. October 2011 at 22:19
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      Das ist eben das Dumme an einer Situation, die Roger Schank sehr bissig so beschrieben hat: „There are only two things wrong with modern education: what we teach and how we teach.“

      Ich frage mich, ob angesichts der unaufgeklärten, geradezu religiösen Haltung zu Bildung hier­zulande wohl nur ein Dawkinsesker Angriff etwas Bewegung in die Köpfe bringen würde. ;>

    • AlexanderB on 4. October 2011 at 11:30
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    Ja zum Bildungskanon. Okay, im Fach Deutsch lässt darüber streiten ob es nun Tell, Goethe oder doch Charlotte Roche sein soll (wir haben im Grundkurs damals Süskind gelesen, dann kam Kafka, okay, Tell war auch irgendwann dabei, Götz von Berlichingen… eigentlich keine schlechte Mischung… ich glaube wir durften teilweise darüber abstimmen)…
    Aber in den Naturwissenschaften ist die Auswahl der richtigen Inhalte doch eigentlich ein ziemlicher no-brainer. Da sollte man lieber an der Optimierung des “Lehrer”materials arbeiten, denn oftmals sehe ich da einen Schwachpunkt. Verschiedene Altersstufen zusammen unterrichten ist auch Käse… die Cleveren langweilen sich, weil es nicht voran geht, und die weniger Cleveren haben es auch noch zwei Jahren noch nicht kapiert.
    Nicht zuletzt muss der Lernerfolg auch vergleichbar sein, da ansonsten die Fairness beim Qualifikationserwerb auf der Strecke bleibt. Also ich bin für weniger Experimente, dafür für mehr und besser ausgebildete Lehrer. Dazu neben den Kerninhalten ein reichhaltiges Wahlfachangebot, um individuell auf die Vorlieben und Talente der Schüler eingehen zu können.

      • PeterM on 7. October 2011 at 15:56
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      Erstmal etwas zu deinem zweiten Absatz: Was ist an der Auswahl der „richtigen“ (srsly?) Inhal­te ein no-brainer? Sind zB die jetzigen Lehrpläne „richtig“? Oder sind sie es offensichtlich nicht? Also mal Butter bei die Fisch: Was ist das Kriterium für „Richtigkeit“, und warum sollen nicht genau dieselben Einwände gelten, die ich schon im Artikel erwähne?

      Und zum zweiten Teil des Absatzes: Das ist genau die Haltung, die ich als pädagische Bank­rotterklärung bezeichnet habe: Wer es nicht kapiert, ist halt nicht clever genug. Oder zu faul. Einfacher kann man es sich nicht machen. Und das „die Cleveren langweilen sich, weil es nicht voran geht“ setzt zwei Dinge als Prämissen voraus, die hier gerade in Frage stehen sollten: 1. daß nur Lehrer zum Lernen von Schülern beitragen dürfen, und nicht auch andere Schüler; 2. daß es primär um „Stoff“ geht, in dem man „voran“ kommen kann, sprich: Das Wichtige ist, was gelehrt wird, was auch immer davon bei den Schülern ankommt.

      Dieses implizite Modell ist es, mit dem wir seit Jahrzehnten herumexperimentieren und das immer noch nur erbärmliche Ergebnisse zeitigt. Wie kommt es zB, daß nur eine Minderheit erklären kann, wie Jahreszeiten zustandekommen, wie Evolution funktioniert oder wo schwere Elemente herkommen?

      Wofür ich hier Stellung beziehe, ist geradezu das genaue Gegenteil von Herumexperimen­tieren, da es auf dem besten momentan verfügbaren Wissen darüber beruht, wie Menschen lernen. Im Gegensatz zum „traditionellen“ Unterricht, der sich jeglicher Überprüfung ernsthafter Ergebnisse verweigert oder so gut wie aussagelose standardisierte Tests heranzieht.

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