Sarrazin, Intelligenz und Einwanderung

In einem aktuellen Interview mit der „Zeit“ stellt Thilo Sarrazin denselben Fehler zur Schau, der schon vor einem Jahr sein Buch unbrauchbar gemacht hat: einen riesigen Mangel an Selbstkritik. Aus diesem aktuel­len Anlass hier ein Text, der zum Erscheinen des Buches entstanden ist.

An der hysterischen Reaktion auf Thilo Sarrazin gibt es drei Dinge zu beobachten, die mich nachdenklich machen. Keine davon werden in der öffentlichen Diskussion ernsthaft wahrgenommen. Zuerst ist da die zu­tiefst unfreiheitliche Tendenz, jemanden mundtot zu machen und gesellschaftlich zu ächten, der nichts Straf­bares, sondern nur etwas Dummes (nämlich fahrlässig nicht kritisch Hinterfragtes) gesagt hat. Zweitens die sich durch alle Schichten ziehende Ahnungslosigkeit von Intelligenz, Bildung und Vererbung. Drittens, dass sich die Politik mit Zähnen und Klauen dagegen wehrt, auch nur einen zusammenhängenden Gedanken zum Thema Einwanderung zu fassen.

Um keine Unklarheiten aufkommen zu lassen: Die beängstigende Einigkeit und Hysterie, in der Journalisten und Politiker Sarrazins Entlassung und Parteiausschluss fordern, machen dessen Ansichten nicht weniger (oder mehr) abstrus. Sarrazin hat zwar nicht das Recht, für seine Meinung „Respekt“ einzufordern oder dass sie ernstgenommen wird, aber er hat zweifellos das Recht, sie zu haben. Jegliche Repressalien, die über (auch sehr scharfe) Kritik an seiner Meinung hinausgehen, beschränken offensichtlich seine Meinungs­freiheit. Muss ich z.B. damit rechnen, entlassen zu werden, wenn ich sage, dass ich dicke Menschen, Eng­länder oder Schlagermusiker unsympathisch finde, habe ich de facto keine Meinungsfreiheit – ob mich das zu einem guten Menschen macht, ist eine berechtigte, aber davon unabhängige Frage.

Für eine wie auch immer geartete Beschränkung der Meinungsfreiheit sollten wir nur zwei Gründe zulassen: den Aufruf zu Gewalt gegen Menschen bzw. zu gewaltsamer Beseitigung ihrer Grundrechte und den Aufruf zur Beseitigung der Meinungsfreiheit selbst. Im Gegensatz dazu ist die einzige „Strafe“, die Dummheit nach sich ziehen darf, ihre Bloßstellung.

Und hier ist Sarrazin kaum in größerer Gefahr als die vielen selbsternannten „Entlarver“, mit denen er in den letzten Wochen diskutiert hat. Soweit Sarrazin selbst am Thema Intelligenz und ihrer Erblichkeit interessiert ist, geht aus den veröffent­lichten Texten hervor, dass er Intelligenz für etwas mehr oder weniger Homogenes, quasi Ding­liches hält – gemäß dem Begriff „allgemeine Intelligenz“ und seiner Verwendung z.B. in IQ-Tests. So sagt Sarrazin in der „Zeit“:

„Die Intelligenz ist zu 50 bis 80 Prozent erblich. Die weniger Intelligenten vermehren sich schneller als der Durchschnitt. Das bedeutet in der Konsequenz, dass die Intelligenz der Grundgesamtheit sinkt.“

Alle drei Schritte dieses Dreisatzes sind falsch. Die erste Aussage wird von Sarrazin falsch zitiert, sie lautet richtig: „Geschätzte 50 bis 80 Prozent der der Intelligenz-Unterschiede einer Gruppe von Individuen lassen sich auf genetische Faktoren zurückführen.“ Die Aussage ist explizit nicht, welcher Anteil der Intelligenz eines Individuums auf genetische Faktoren zurückzuführen ist. Sie wäre ebenso sinnlos wie die Aussage, dass 170 cm meiner Körpergröße auf meine Gene und 10 cm auf die Umwelt zurückzuführen sind. Natürlich ist jeder einzelne Zentimeter meiner Körpergröße auf Gene zurückzuführen, nach deren Rezept er gebaut wurde. Einzig erhellend ist die Untersuchung der Unterschiede in der Körpergröße zwischen mir und Men­schen, deren Gene bzw. deren Umwelt ich geteilt habe. (Wäre mein eineiiger Zwilling 5 cm größer als ich, wäre der Unterschied zu 0 Prozent erblich, da er nicht auf genetische Faktoren zurückzuführen sein könnte; hätte ich dieselbe Umwelt mit einem 5 cm größeren Menschen geteilt, wäre der Unterschied zu 100 Prozent erblich, da nur auf genetische Faktoren zurückzuführen.)

Die zweite Aussage („Die weniger Intelligenten vermehren sich schneller als der Durchschnitt“) verwendet als implizite Prämisse eine messbare und hierarchisierbare Einheit der Intelligenz, analog zum Intelligenz­quotienten. Alle Annahmen dieser Aussage sind falsch, wie schon der Urvater des Intelligenztests, Alfred Binet, unmissverständlich klarstellte: Seine Skala sei kein Maß der Intelligenz, da sich verschiedene Aspekte der Intelligenz nicht einfach aufrechnen ließen. Und wer wollte denn wohl auch bestreiten, dass abstraktes Denken, Schlagfertigkeit, Kreativität, Anpassungsfähigkeit oder künstlerische Fähigkeiten gleichberechtigte Teile von Intelligenz sind, sich aber nicht verrechnen lassen?

Und drittens: Die sozioökonomisch schwache Mehrheit, die laut Sarrazin auch tendentiell mit unterdurch­schnitt­licher Intelligenz gesegnet ist, hat schon immer mehr Kinder gekriegt als die Intelligentsia. Warum bloß werden wir also nicht schon seit Jahrhunderten dümmer? Die Antwort liegt im vorigen Absatz: Intelligenz ist kein isolierbares Merkmal, das sich nach den Regeln natürlicher Auslese bei größerem relativem Repro­duktionserfolg in der Population ausbreiten müsste. Intelligenz ist ein hochdimensionaler Merkmalkomplex, es entstehen also unzählige individuelle Kombinationen. Kein Volk schafft sich ab, nur weil diejenigen mehr Kinder kriegen, die in ideolo­gisch missbrauchten IQ-Tests schlechter abschneiden. (Analoges gilt selbst­redend für eine ebenso hochdimensionale „kulturelle Identität“.)

Zu guter letzt bleibt das heiße Eisen Einwanderung. Warum tun wir uns eigentlich so schwer damit zu sagen, dass wir bestimmte Einwanderer gern hätten, bestimmte andere aber nicht? Oder aus anderer Perspektive gesagt: Wer nach Frankreich auswandert, tut das (idealerweise), weil ihm das Land mehr zusagt als z.B. Spanien oder Dänemark, er sich also mehr mit ihm identifiziert. Und das ist auch schon die Crux: Wir wissen selbst kaum, womit wir uns identifizieren (wollen). Das wäre einer der ersten Schritte einer ernsthaften Ein­wanderungsdebatte: An welchem Gesellschaftsmodell sollen Einwanderer mitarbeiten wollen? Von solchen können wir nämlich nicht genug bekommen.

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