Erschienen in der Tageszeitung „Neues Deutschland“ am 11.11.2011.
Etwa acht Jahre lang habe ich verschiedenste Studentengruppen im In- und Ausland unterrichtet. Ob kleine Gruppe oder Sprachkurs mit 40 Teilnehmern, ob Studienanfänger oder Doktoranden – erstaunlicherweise unterrichtet es sich in keiner Situation quasi „von selbst“, egal für wie fortgeschritten, erfahren oder gebildet man die Studenten auch halten mag. Im vergangenen Schuljahr konnte ich für ein paar Monate das entgegengesetze Experiment machen: als Vertretungslehrer für angehende Abiturienten an einem Berliner Kolleg.
Das Kolleg führt Schüler zum Abitur, die in der Regel einen Realschulabschluss und eine Berufsausbildung haben; Kindererziehung oder mehrjährige Berufstätigkeit können auch als Zugangsvoraussetzung akzeptiert werden. Das Publikum ist also sehr gemischt, muss aber immerhin eine gehörige Portion Durchhaltevermögen mitbringen, um noch einmal drei Jahre Schule in Vollzeit und nach den allgemeinen Abiturkriterien durchzustehen. Hier stellt sich die Frage: Sind da nicht viele Schüler dabei, die als Real- oder eventuell sogar Hauptschüler in den Augen des Schulsystems gar nicht geeignet sein dürften, das Abitur zu machen?
In diesem Spannungsfeld befindet sich die momentane Bildungsdebatte: zwischen Exzellenzinitiative an den Universitäten, die angeblich zu wenige Spitzenstudenten produzieren, und der Frage, ob die Hauptschule nicht einfach abgeschafft werden sollte, weil ihr die Schüler ausgehen. Die Frage lautet also immer noch: In welche Schublade können wir diese oder jene Schüler stecken, ohne dass es in einer der Schubladen zu voll wird? In meiner Lehrerzeit habe ich dagegen etwas ganz anderes fragen gelernt: Wie finden wir heraus, was unsere Schüler wirklich können? Nimmt man sie ernst und führt mit ihnen eine gleichberechtigte Unterhaltung, merkt man schnell, dass sie sich (zu recht) dagegen wehren, in vordefinierte Schubladen gesteckt zu werden.
Damit das klappt, müssen die Schüler allerdings verstehen, dass Gleichberechtigung eine echte Option ist. Ein erstaunlich einfaches Mittel, das dabei hilft: sich mit den Schülern duzen. Der Aufschrei erfolgt sofort – weniger von Schülern als von Kollegen. Unprofessionell sei das, wie soll denn da die Distanz zwischen Lehrer und Schüler gewahrt werden? Gegenfrage: Welchen Zweck hat diese Distanz denn, außer den, eine künstliche Autorität des Lehrers zu verteidigen? Mit der kann man dann ohne lästiges Hinterfragen all seine vorab sorgfältig ausgewählten Antworten präsentieren – Antworten auf Fragen, die niemand gestellt hat.
Ganz umgekehrt wird ein Schuh daraus: Es wird ja auch im besten Fall nicht gleichberechtigt gesiezt, sondern auch im Kolleg wird der Schüler mit Vornamen, der Lehrer aber mit Nachnamen gesiezt. Es bleibt also in jedem Fall eine Hierarchie bestehen, die schlicht nicht unhinterfragt angenommen werden sollte. Im Gegenteil: Die so hochgehaltene Distanz selbst ist unprofessionell. Weder sind Antworten das Wichtigste (da sie immer nur vorläufig und abhängig von der Problemstellung sind) noch sollte die Schule in einer doch angeblich aufgeklärten Gesellschaft Autoritätsstrukturen perpetuieren. Und überhaupt: Lernen ist eine soziale Tätigkeit, es geht also per Definition um Zusammenarbeit. Dort künstliche Barrieren einzuziehen, die das Ernstnehmen und Sich-in-andere-Hineindenken erschweren, untergräbt den Zweck von Bildung.
Aber es gibt noch andere Hierarchien, die mehr als kontraproduktiv sind. In praktisch jedem Klassenraum findet sich folgendes Bild: Es gibt die „Streber“, die viele Antworten parat, aber keinen besonders guten Ruf haben; die „Zurückhaltenden“, die seltener in Erscheinung treten und wenn, dann meist mit vorsichtigen Fragen; und die „Hoffnungslosen“, die entweder nur ihre Unwissenheit zu Protokoll geben oder mit ihr kokettieren. So allgegenwärtig diese Hierarchie ist, so ist sie doch ein reines Artefakt der schon angesprochenen (und jeder Erfahrung widersprechenden) Ansicht, dass Lehrer die Quelle „richtigen“ Wissens und die Schüler dazu da sind, dieses Wissen aufzunehmen und (bestenfalls neu verpackt) wiederzugeben.
Die Lösung recht einfach: Mit echten, aber trotzdem komplexen Problemen konfrontiert, für die es nicht schon vorgefertigte Pseudo-Lösungen gibt, sehen die „Streber“, dass ihre pauschalen Antworten nicht wirklich auf die konkreten Fragen passen; die „Zurückhaltenden“ sehen ihre Unsicherheit auf einmal in realen Fragen widergespiegelt und damit ernstgenommen; und die „Hoffnungslosen“ erleben (eventuell zum ersten Mal), dass sie nicht nur einen Zugang zum gerade behandelten Fach finden, sondern etwas verstehen und beitragen können. Auf einmal bekommt man von allen etwas, das der gesamten Gruppe nützt – gute Ideen, Erklärungen, anregende und weiterführende Fragen.
Zu guter letzt bleibt noch der Gipfel der Hierarchisierung in der Schule: Noten. Wenn die einschlägige Bildungsforschung (von der übrigens die Lehrerausbildung immer noch erbärmlich wenig Notiz nimmt) das nicht schon hinreichend belegt hätte, wüsste ich es jetzt: Noten sind der Feind von Lernen und Bildung. Dazu drei Stichpunkte:
Noten fördern Wettbewerbsdenken. Aller Schüler Gedanken kreisen um diese Fragen: Habe ich in der Klausur eine bessere Note bekommen als Person X? Ist meine Zeugnisnote gerecht, obwohl jemand anders mit dieser Note viel weniger getan hat? Bekomme ich gut genuge Noten, um in Studiengang Y hineinzukommen? Kann ich hier oder da nicht noch einen Punkt mehr erfeilschen? Die Frage „Was habe ich eigentlich gelernt, und kann ich damit zufrieden sein?“ taucht so gut wie nie mehr auf.
Noten fördern Selbstzufriedenheit. Manche sind mit einer 4 zufrieden, weil sie sich auch selbt nicht mehr zutrauen; andere mit einer 2, weil sie zwar gut sein wollen, aber nicht glauben, genug Talent in dem Fach zu haben, als dass es für eine 1 reicht; und wer eine 1 hat, hat eh alles erreicht, was zählt – warum darüber hinaus noch anstrengen? Und was hieße das überhaupt: „darüber hinaus“? Die Notenskala ist erschöpft, mehr interessiert die Schule von System wegen nicht.
Noten förden das Abstempeln von Schülern. „Der kann wirklich keine Physik.“ Ein Satz, der leider viel zu häufig vorkommt, und dessentwegen man sich als Lehrer in Grund und Boden schämen müsste. Wer Augen hat zu sehen, der sieht, wo er nur hinschaut, Leute, die bis zu einem bestimmten Zeitpunkt sogar selbst dachten, sie hätten für irgendetwas weder Interesse noch Begabung – bis ihnen jemand oder etwas die Augen öffnet. Die Verantwortung für den (mangelnden) Lernfortschritt kurzerhand auf den Schüler – schlimmer noch: dessen Begabung – abzuwälzen, ist nichts als eine pädagogische Bankrotterklärung.
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