Bildungs-Bullshit-Bingo

Manchmal fragt man sich, ob es eigentlich noch andere Bereiche öffentlicher Diskussion gibt, über die täg­lich und offenbar kaum ohne Luft zu holen (geschweige denn nachzudenken) so viel Blödsinn erzählt wird wie über Bildung. Stellvertretend dafür dienen ein paar Artikel aus der „Zeit“ der letzten drei Tage.

In einem Interview mit dem Berliner Erziehungswissenschaftler Heinz-Elmar Tenorth („Bildung ist, was übrig bleibt“) wird über Lehrpläne gesprochen und was in ihnen stehen sollte, Robert Leicht schreibt über die Odenwaldschule, und ein kurzer Kommentar befaßt sich mit den Reformen an Berliner Schulen.

Letztere haben unter anderem auch jahrgangsübergreifendes Lernen an den Grundschulen mit sich ge­bracht – was gleich mal als Prügelknabe herhalten muß, um zu erklären, wieso viele Eltern ihre Kinder auf Privatschulen geben:

Viele Eltern zweifeln an der Qualität der Schulen – es ist ein Misstrauensvotum, dass jedes zehnte Kind eine private Einrichtung besucht. Wer erlebt, dass beim jahrgangsübergreifen­den Lernen die Kinder unfreiwillig zu Hilfslehrern gemacht werden, weil die versproche­nen Zusatzkräfte fehlen, kann den Unmut verstehen.

Der Unmut über mangelnde Mittel ist in der Tat verständlich, wenn die auch in Berlin nicht wirklich etwas Neues sind. Erstaunlich ist allerdings, daß noch nicht vielen aufgefallen ist, daß das jahrgangsübergreifende Lernen vor allem eine ganz offensichtliche Stärke hat: Es in einer Frage schon weiteren Schülern zu ermög­lichen, nicht nur anderen zu helfen (Gemeinschaftsbildung, in zweierlei Sinn), sondern das eigene Wissen dadurch zu stärken, daß sie es für andere noch einmal aus deren Perspektive aufbereiten müssen. Nicht umsonst sagt man, man kann erst sicher, was man auch anderen beibringen kann. Wer zum Hilfslehrer taugt, hat also offensichtlich sogar mehr gelernt als in bisherigen Schulformen – ein Zeichen für Qualität, wenn ich mich nicht irre.

Das Thema Odenwaldschule hat vorhersehbarerweise auch ein gern mißbrauchtes Schlagwort wieder auf die Tagesordnung gebracht: das von der angeblichen professionellen Distanz:

Ahnte denn niemand, dass gerade besonders beliebte Pädagogen besonders kritisch be­trachtet werden müssen, weil der Wunsch, ja die Sucht nach Beliebtheit vor allem einen selber korrumpieren kann, gerade als Pädagogen? […]

Die meisten wollen von dem Sumpf an Missbrauch und Distanzverletzung jahrzehntelang nichts gemerkt haben?

Es ist ja schon mal interessant, daß gerade Beliebtheit einen verdächtig macht – daß die dann aber auch noch umstandslos einer offensichtlich pathologischen „Sucht nach Beliebtheit“ zuzuschreiben ist, ist schon ein starkes Stück. Und „Missbrauch und Distanzverletzung“? Als ob sexuelle Avancen gegenüber Schülern auch nur irgendetwas damit zu tun hätten, daß Lehrer zu sehr auf Schüler eingehen, sie zu sehr verstehen, sie zu sehr ernstnehmen. Letzteres ist tatsächlich Distanzverletzung, und es wird dringend Zeit, daß mehr Lehrer die arrogante Haltung hinter der „Distanz“ endlich aufgeben. Nichts, aber auch gar nichts, hat daran mit einer Intimität zu tun, die in sexuelle Nötigung umschlagen könnte. Mit exakt demselben Argument müßte man fordern, Eltern sollten bitte mehr erzieherische Distanz zu ihren Kindern einhalten und sie nicht mehr umarmen, weil schließlich die meisten sexuellen Übergriffe in Familien stattfinden. Die beiden Dinge haben schlicht nichts miteinander zu tun.

Zu guter letzt Herr Tenorth. Am Anfang scheint noch alles gutzugehen, auch wenn die Formulierungen in ihrer Plattheit nicht wirklich erhellend sind:

Wer stattdessen allein mehr Wissen vermitteln will, der versteht die Aufgabe der Schule nicht. Die Schule hat Schülern Modi des Weltzugangs zu vermitteln, nicht in erster Linie Wissen.

Man könnte hier vermuten, daß dahinter so etwas steckt wie Schülern eher das Lernen an sich beibringen zu wollen, woraus dann je nach weckbaren Interessen und Begabungen natürlich auch hilfreiches Wissen fließt. Nur wenig später sagt er allerdings, nachdem er sich gerade noch gegen die Forderung an die Schule verwahrt hatte, „sich mehr mit dem nachhaltigen Lehren von Basiswissen“ zu befassen:

Wir müssen für die einzelnen Fächer ein verpflichtendes Kerncurriculum festlegen […].

Kaum daß man’s sich versieht, ist auch schon der Bildungskanon wieder auf dem Tisch – so ziemlich die reaktionärste Idee, die man sich in der Schule vorstellen kann. Von der Wiedereinführung des Züchtigungs­rechts eventuell abgesehen. Und welche Begründung hat für so eine Idee auch jemals gegeben werden können? Daß irgendetwas Entscheidendes davon abhängt, daß jeder den Umgang mit großen Ideen und Schauspielen an Goethes Faust gelernt haben muß? Oder an Schillers Tell? Oder gerade nicht am Tell, weil der nicht im Kanon ist? Wer entscheidet denn über diesen Kanon? Ist es möglicherweise viel wichtiger, nicht genau das gelesen zu haben, was alle anderen auch gelesen haben – um sich dann hinterher über die verschiedenen Lektüren tatsächlich gegenseitig etwas zu sagen zu haben? Und was trägt wohl mehr zum Erhalt einer breiten Kultur bei: ein notwendigerweise enger Kanon oder eine von vergleichbaren Erkenntnis­interessen geleitete Sicht auf die gesamte Kultur?

Aber es geht schon weiter, und der „Zeit“-Autor bringt flugs ins Spiel, daß „gefestigtes Basiswissen“ womög­lich wichtiger sei als eine „flüchtige Ahnung von Matrizenrechnung“ – als ob man an Matrizen nicht auch Grundlegendes über Mathematik lernen könnte und als ob Basiswissen allein schon qua „Basis“ gut sei, egal wie es „vermittelt“ wird. Die für manche sicher etwas erstaunliche Antwort:

Zunächst einmal ist es um das Basiswissen der meisten deutschen Schüler – zumal der Gymnasiasten – auch im internationalen Vergleich nicht schlecht bestellt.

Dazu paßt gut die Geschichte einer Freundin, die sich als Abiturientin um eine Lehrstelle bei ebay bewarb und von deren etwa 15 Mitbewerbern keiner eine einfache Aufgabe zur schriftlichen Division lösen konnte. Sie auch nicht. Oder daß kaum jemand, der das normale deutsche Schulsystem durchlaufen hat, ohne größere psychische Qualen einen auch nur halbwegs klischeefreien Gebrauchstext herstellen kann. Oder gelernt hat, verschiedene Meinungen anhand ihrer argumentativen Unterstützung zu vergleichen und ihre jeweiligen Konsequenzen aufzuzeigen. Aber schauen wir mal auf Mathe, wo Tenorth sich für ein repräsen­tatives Beispiel hält:

Es ist ja viel hängen geblieben. Sicher kann ich nur noch die wenigsten mathematischen Operationen nachvollziehen und kann auch keinen mathematischen Beweis mehr führen. Was ich aber gelernt habe, ist, dass es ein Wissensgebiet gibt, das auf Beweisen aufbaut, die unwiderlegbar sind, wo sich die Frage »Wahr oder falsch?« eindeutig entscheiden lässt, das mit seinen Axiomen und theoretischen Modellen so konstruiert ist, dass es wunder­samerweise zur Wirklichkeit passt.

Also so ziemlich alles, worum es in der Schule geht (Operationen und Beweise), sind bei ihm verschwunden. Dann glaubt er, daß die Mathematik unwiderlegbare Beweise findet, was nur zeigt, daß er nie verstanden hat, daß deduktive Logik (das Schließen von gegebenen Prämissen) nur die Aussage erlaubt, daß entweder die Schlußfolgerungen einer Argumentationskette (z.B. eines Beweises) richtig sind oder mindestens eine der Prämissen falsch. Welches von beiden es ist, kann die Logik nicht entscheiden. Und soweit mathe­mathische Modelle konstruiert sind (um Probleme in der realen Welt zu lösen), ist kaum etwas Wunderbares an ihren. Die andere Seite der Beziehung der Mathematik zur Wirklichkeit beschreibt dagegen Einstein präg­nant: „Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit.“ Man sollte sich lieber darüber wundern, wie wenig dann anscheinend doch nur hängengeblieben ist – wenn es denn je „vermittelt“ wurde.

Und um dem ganzen die Krone aufzusetzen:

Es mag esoterisch klingen, aber ich sehe das so, wie Nietzsche das Griechischlernen ver­teidigt hat: Wenn man in die Schule eintritt, braucht man etwas wirklich Fremdes, um zu merken, dass man in der Bildungswelt ist. Einer Welt, die mit dem Alltag nichts zu tun hat, die ihre eigenen Gesetze, Regeln, Traditionen und Erwartungen hat.

Bingo! Da wird sich die Schule aber freuen, daß sie endlich auch einmal etwas tun soll, was sie schon seit Ewigkeiten hervorragend macht: den Schülern den Eindruck geben, daß sie mit der echten Welt nichts zu tun hat. Daß Bildung etwas ist, das in der Schule stattfindet, und daß man dann – das ist nur die logische Konsequenz daraus – nach dem Abschluß nichts mehr mit Schule und Lernen (dem Kinderkram) zu tun haben will. Isaac Asimov sagte das im zweiten Teil eines Interviews mit Bill Moyers (ca. bei 5:35 min.) so:

That’s another trouble with education as we now have it. People think of education as something that they can finish. And what’s more, when they finish, it’s a rite of passage. You’re finished with school. You’re no more a child, and therefore anything that reminds you of school—reading books, having ideas, asking questions—that’s kids’ stuff. Now you’re an adult, you don’t do that sort of thing any more.

Und da lebenslanges Lernen unumgänglich bedeutet, daß das zu Lernende nicht „a finished product“ (Dewey) sein kann, das einem von außen aufoktroyiert wird, wird ein anderes Ziel dringend benötigt: Kreativität.

MOYERS: Is it possible that this passion for learning can be spread to ordinary folks out there? Can we have a revolution in learning?

ASIMOV: Yes, I think not only that we can but that we must. As computers take over more and more of the work that human beings shouldn’t be doing in the first place—because it doesn’t utilize their brains, it stultifies and bores them to death—there’s going to be nothing left for human beings to do but the more creative types of endeavor. The only way we can indulge in the more creative types of endeavor is to have brains that aim at that from the start.

You can’t take a human being and put him to work at a job that underuses the brain and keep him working at it for decades and decades, and then say, “Well, that job isn’t there, go do something more creative.” You have beaten the creativity out of him. But if from the start children are educated into appreciating their own creativity, then probably almost all of us can be creative. In the old days, very few people could read and write. Literacy was a very novel sort of thing, and it was felt that most people just didn’t have it in them. But with mass education, it turned out that most people could be taught to read and write. In the same way, once we have computer outlets in every home, each of them hooked up to enormous libraries, where you can ask any question and be given answers, you can look up some­thing you’re interested in knowing, however silly it might seem to someone else.

Ken Robinson, übernehmen Sie! (TED-Vortrag: „Bring on the Learning Revolution!“)

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