Was ist ein guter Lehrer?

[Dies ist möglicherweise ein recht abstrakter Text. Sollten Ideen oder Formulierungen unnötig kompliziert sein, würde ich mich ehrlich über einen Hinweis in einem Kommentar freuen!]

Erschienen in der Tageszeitung „Neues Deutschland“ am 16.3.2012.

In jeglicher Bildungsdiskussion wird heute darauf hingewiesen, dass wir gute Lehrer brauchen. „Schule steht und fällt mit dem Lehrer.“ „Wir müssen die besten Studenten für das Lehrerstudium gewinnen.“ Solche Sätze werden gern bemüht – bleiben aber hohle Phrasen, solange wir keine Antwort auf die eigentlich entschei­dende Frage suchen: Was ist ein guter Lehrer?

Geht man diese Frage erstmal von der Praxis aus an, sieht man schnell: Gute Lehrer scheint es in allen Farben und Geschmacksrichtungen zu geben. Strenge, nette, frontalunterrichtende, gruppenbildende, enorm diszipli­nierte oder kreative, freie Lehrer – auf den ersten Blick scheint es wenig Gemeinsamkeiten zu geben. Wer ent­scheidet, was gut ist: Schüler, Eltern, Lehrerkollegen? Und ist das nicht eher eine Frage der gerade vorherr­schen­den akademischen Bildungstheorie – oder des Geschmacks?

Betrachten wir das einmal von den Grundprinzipien her: Was ist Bildung? Bildung schließt auf jeden Fall Lernen ein, so viel muss wohl unkontrovers sein. Daraus folgt allerdings schon eine tiefgehende Forderung an einen Lehrer: Er muss zuallererst verstehen, was Lernen ist und wie es funktioniert. Hierzu haben Erkenntnis­theorie und Psychologie einiges zu sagen, und das für einen Lehrer Entscheidende lässt sich relativ einfach be­schreiben. Die Erkenntnistheorie sagt: Es gibt kein absolut gesichertes Wissen, sondern nur mehr oder weniger gut belegtes, das im Prinzip offen bleiben muss für Verbesserungen und sogar Wider­legungen. Und die Psycho­logie sagt: In einem Bedeutungszusammenhang sowie aus eigener Motivation heraus lernt man in jedem Fall besser als ohne einen Bedeutungszusammenhang und nur mit extrinsischer (oder gar ohne) Motivation.

Leider nimmt insbesondere die Lehrerausbildung darauf bisher so gut wie keine Rücksicht. Hier steht weiter­hin Fachwissen im Vordergrund – was Wissen an sich ist und wie wir es erlangen können, wird dagegen kaum systematisch gelehrt. Ebenso wichtig (und ebenso vernachlässigt): Wie motiviert man unterschiedliche Lerntypen dazu, sich mit einem Problem tief­gehend zu beschäftigen? Mit welchen Hilfsmitteln bindet man individuelle Moti­vation besonders zuverlässig und langfristig an ein Themengebiet? (Wen erreiche ich z. B. eher mit Büchern, wen mit Videos? Wie baue ich damit langfristig aktives Vokabular auf oder wecke Faszi­nation für kom­plexere Fragestellungen?) Ein guter Lehrer sollte solche Fragen einmal studiert und in der Praxis erprobt haben.

Im nächsten Schritt können wir nun über die rein konzeptionelle Betrachtung hinausgehen und fragen: Was ist Lernen – und was ist es nicht? Wenn wir eine qualitative Definition für „Lernen“ suchen, schließen wir damit bereits rein quantitative Definitionen des Begriffs aus: In diesem Sinne ist die reine Akkumulation von Infor­mationen kein Lernen. Im Alltag sehen wir das ganz ähnlich, wenn wir z. B. das Füllen einer Daten­bank nicht als Lernen bezeichnen und das Büffeln unregelmäßiger Verben bestenfalls „auswendiglernen“ nennen.

Davon unterscheidet sich „echtes“ Lernen dadurch, dass es eine persönliche und intellektuelle Entwicklung impliziert – eine Bewusstseinsänderung, die einem idealerweise zeigt, wie man weitere solcher Bewusst­seins­ände­rungen erreichen kann. Ein Beispiel aus dem Geschichtsunterricht: Bekomme ich nur gesagt, dass 1919 der Versailler Vertrag unter­zeich­net wurde und dass er sehr harte Friedensbedingungen für das Deut­sche Reich enthielt, dann werden diese Fakten kaum mit meinem Bewusstsein interagieren. Ohne weitere Erinnerungshilfen, üblicher­weise durch Wieder­holung und durch Ähnlichkeit zu anderen, bestenfalls ober­flächlich verbundenen Fakten, werden sie auch relativ bald wieder aus meinem Gedächtnis herausfallen.

Schaut man sich beispielsweise das Ende des 1. Weltkriegs an, so sieht man ein militärisches Patt, in dem keiner der Beteiligten sich noch entscheidende Vorteile erkämpfen konnte. Vergleicht man dann einige der Bedingungen von Versailles z. B. mit solchen aus dem Berliner Vertrag von 1878 – der die Balkankrise und den Russisch-Osmanischen Krieg beschloss und eine ähn­liche Neuordnung der poli­tischen Verhältnisse in Europa besiegelte wie Versailles –, so sieht man sich sofort vor einem Problem. Wie kann man erklären, dass trotz ähnlicher Ausgangssituation Versailles viel schärfere Bedingungen festschrieb? Um vor dieses Problem gestellt zu werden, braucht es nur margi­nal mehr als in der vorigen Lehrsituation. Dem gegen­über stehen allerdings unge­ahnte Möglichkeiten, sowohl Interesse an einem intellektuell befriedigenden Problem zu wecken als auch den Zusammenhang verschie­dener Aspekte des Problems zu beleuch­ten: War es die Drohung der Amerikaner im Hintergrund, noch eine militärische Entscheidung herbeizuführen, oder spielte vielleicht einfach das arrogante Auftreten der deut­schen Delegation die entscheidende Rolle? Was müsste man herausfinden, um diese Theorien zu beur­teilen? Die explizit als Problem kon­struierte Situa­tion verdeut­licht, dass es bei echtem Lernen darum geht, etwas zu erklären – sich selbst und anderen.

Dieses Konstruieren von Problemsituationen und Konfrontieren mit Fragen, die eine Erklärung heraus­fordern, ist eine weitere Facette der Fachkompetenz eines Lehrers. Um das Bewusstsein des Lerners zu erreichen, müssen die Fragen den Lerner selbst zu Erklärungen herausfordern: Jeder weiß, wie schwer es ist, sich der Faszination eines Problems zu entziehen, das man selbst entdeckt hat. In diesem problem­orientierten Ansatz verwenden Lehrer echte Probleme, an denen man unmissverständlich erkennt, dass sie keine einfachen Antworten haben, die ohne Weiteres auf die Kate­gorien „richtig“ und „falsch“ reduzierbar sind – sprich: Probleme, die nicht an vorherbestimmter Stelle zum Einstellen des Denkens verführen.

Der zweite entscheidende Aspekt dieses Kompetenzverständnisses ist es, dass man auch die Kompetenz von Exper­ten nicht als unhinterfragbar hinstellt – insbesondere nicht die des Lehrers. Und der ist sich be­wusst, dass die Kompetenz, die er in seinen Schülern ausbilden will, gerade nicht eine ist, die bloß darauf schaut, was sie alles kann und weiß. Kompetenz ist vor allem die Fähigkeit zu erkennen, wo sie endet.

Dies alles ist ein sozialer Prozess, der vom Austausch zwischen Lernern und von deren Kreativität lebt. Und die Abrundung der sozialen Komponente ist, dass man alles Lernen, das man erreicht hat, auch anderen verständlich machen können muss. Und so schließt sich der Bogen dessen, was einen guten Lehrer aus­macht: nicht nur selbst gut erklären können, sondern andere zu guten Erklärern machen.

3 comments

  1. Der letzte Satz bringt es auf den Punkt: Lehrer sollten Wissen so vermitteln oder (besser) erarbeiten lassen, dass der Schüler es mit bereits vorhandenem Wissen verknüpfen kann — am besten in einer Art und Weise, bei der der Schüler sich gar nicht anstrengen braucht, Verknüpfungen herbeizuführen. Denn: Nur durch derart verknüpftes Wissen kann er selbst wieder zum guten Erklärer werden.

    Ist das nicht gegeben, bleibt es beim Status quo: Lernen um des Lernens willen (also für die nächste Klausur/Prüfung).

      • PeterM on 16. February 2012 at 13:42
        Author

      am besten in einer Art und Weise, bei der der Schüler sich gar nicht anstren­gen braucht, Verknüpfungen herbeizuführen

      Das ist ein entscheidender Punkt: Die Verknüpfung selbst sollte möglichst anstrengungslos passieren, allerdings dann dazu führen, daß der Schüler danach von sich aus Anstrengungen unternimmt, um mehr herauszufinden.

    • David on 21. February 2012 at 17:06
    • Reply

    Wie backe ich mir einen perfekten Lehrer? Wahrscheinlich einfacher zu beantworten als die Frage nach dem perfekten Partner. 🙂 Allerdings, wie auch bei der Partnerwahl, ist hier natürlich nicht die Frage nach Perfektion, sondern eher die nach einem normalen und keinem Übermenschen. Einer Person, die sich selbst nicht auf eine höhere Stufe stellt und es versteht Interesse für Themen zu wecken, von denen man zuvor immer dachte, man müsse es eben einfach lernen. Ob man will oder nicht.

    Und wie hat man selbst oft festgestellt: „Man hat nur etwas richtig verstanden, wenn man es anderen auch verständlich erklären kann!“

    Was dann natürlich zu der Frage führen könnte: „Wenn ich es nicht verstanden habe, hat es der Lehrer dann womöglich auch nicht richtig verstanden?“

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