Manchmal kann man nur noch hoffen, daß Journalisten einfach nicht über das nachdenken, worüber sie schreiben. Die Alternative – daß sie wissen, was sie tun – wäre ungleich beschämender.
Robert Kiehl war Referendar am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt, als ein Schüler dort 16 Menschen erschoß. Ein Journalist der „Zeit“ hat ihn im Saarland besucht, wo er inzwischen wieder unterrichtet. Kiehl war lange traumatisiert, hatte Probleme, sich wieder in ein normales Leben einzufinden. Wer hätte das gedacht. Die wenig erhellenden Details seiner Leidenszeit enden in einem kitschigen Erlösungsbild eingerahmt von seiner Doktorarbeit über Wielands Agathon, der Geschichte eines von seinem Lehrer vor der Misanthropie geretteten Schülers.
Kiehls Trauma – und das dutzender Kollegen – ist fraglos eine riesige Belastung. Ohne Zweifel haben die Opfer jegliche Unterstützung verdient. Und wir täten gut daran, etwas aus Amokläufen wie in Erfurt zu lernen. So plausibel es auch ist, daß die Täter psychologisch nicht als normal einzustufen sind, so sehr springen doch auch die Tatmerkmale Machtausübung und Angst verbreiten ins Auge. Der Täter wehrt sich (in seiner Wahrnehmung, und wenn man den Aussagen einiger von ihnen vertrauen kann) gegen eine Behandlung, gegen die er kein anderes Mittel kennt.
Vor diesem Hintergrund ist es mehr als erstaunlich, wenn im Artikel unhinterfragt einige der autoritärsten Klischees über den Lehrerberuf ausgebreitet werden, als gebiete es nicht gerade die gesamte Rahmenhandlung, über Beziehungen der Macht, Angst und Hierarchie endlich einmal nachzudenken.
Aber nein. Der Amoklauf hatte hauptsächlich Lehrer zum Ziel, und Lehrer haben eine primäre Aufgabe:
[E]in Lehrer muss stets Herr der Lage und Klasse sein. Die Schüler sollen zu ihm aufschauen.
Dieses Bild könnte aus der Kaiserzeit stammen, steht aber tatsächlich 2012 in der „Zeit“. Disziplin und Hierarchie sind entscheidend, damit ja niemand allzu weit vom vorgegebenen Weg abweicht und damit die Autorität des Herrn der Lage untergräbt. Tragischer als die Rollenvorstellung des Lehrers, die drei ganze Generationen verschlafen zu haben scheint, ist das Bild der Schüler als folgsamer Bewunderer, die in „schafsmäßiger Ergebenheit“ in ihres Herrn Fußstapfen treten, ohne ihn – gleich Zenons Schildkröte – jemals einholen zu können.
Als ob das nicht schon genug wäre, berichtet der Autor von Kiehls Mentorin am Erfurter Gymnasium, daß sie ihm erklärt habe,
dass auch der Schüler Macht über den Lehrer habe. Die Macht, ihm das Lehren zur Hölle zu machen. Daher sollten Lehrer Schüler respektieren, dann müssten sie eines nie haben vor ihnen: Angst.
Aus Angst davor, daß mir jemand das Lehren zur Hölle macht, sollte ich ihn also respektieren, damit ich keine Angst vor ihm haben muß. Wie wäre es damit, jeden Menschen zu respektieren, und zwar einfach, weil seine Menschenwürde danach verlangt? Zu radikal?
Aber im Ernst: Können wir bitte endlich aufhören, in Kategorien wie „Macht“ überhaupt zu denken? Meine Aufgabe als Lehrer ist es, Lernen zu ermöglichen und zu fördern – kaum mehr und ganz sicher nicht weniger. Wer in diesem Zusammenhang an „Macht“ denkt, hat von Lernen nichts, aber auch gar nichts verstanden. Oh, sicher, ich als Herr über die Verabreichung genormten, lehrplansanktionierten „Wissens“ habe selbstverständlich Macht über diejenigen, deren Einfluß auf Inhalt und Dauer dieser intellektuellen Folter – geschweige denn die Form des verwendeten Trichters – rasant gegen Null strebt. Aber wie schon gesagt: Dieser „Herr“ hat nichts, aber auch gar nichts von Lernen verstanden.
Schüler zu respektieren hieße, ihnen zuzugestehen, eigene Probleme erkennen zu können, eigene Fragen nicht nur stellen, sondern auch bis zu einer befriedigenden Lösung verfolgen zu können und vor allem Autorität aktiv zu untergraben – denn nichts ist aktivem Verstehen sowie Fortschritt im allgemeinen mehr entgegengestellt.
Zu dieser Vorstellung der Autorität gehört auch das Hirngespinst, man könne
als Lehrer einen Schüler objektiv benoten.
Es fehlen einem die Worte, wenn man solche Märchen unter Umgehung aller höheren Hirnfunktionen nachgeplappert in einer ernstzunehmenden Zeitung liest. Fast alles Wichtige dazu hat der Bildungsautor Alfie Kohn in „From Degrading to De-Grading“ schon gesagt. Zwei Dinge kommen hinzu:
1. Objektivität ist nicht ein Merkmal einer Person, sondern das Ergebnis eines sozialen Prozesses. Und es ist leider kein Zufall, daß Lehrer gegen kaum etwas allergischer sind als gegen Besuche von Kollegen in ihrem Unterricht und die Kritik eines Kollegen an ihrer Notenvergabe.
2. Daß wir es nicht längst als Mindestanforderung eines Lernprozesses verstehen, daß der Lerner seinen Fortschritt selbst beurteilen kann, ist ein Armutszeugnis für unser Verständnis von Bildung. Nicht ich als Lehrer kann objektiv sein, wenn ich jemanden benote; ich kann aber dafür sorgen, daß es intersubjektiv nachvollziehbare, von allen Beteiligten als relevant anerkannte und empirisch überprüfbare Kriterien gibt, nach denen eine Beurteilung erfolgt. Und die können dann nicht nur andere Kollegen in vergleichbarer Weise anwenden, sondern eben auch die Schüler. Der Richter, gegen dessen pseudo-objektive, aber eben gerade repressiven Urteile keine Berufung möglich war, mochte sie noch so vernünftig, gut argumentiert oder menschlich sein, sollte endlich der Vergangenheit angehören.
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