Politik in einer offenen Gesellschaft

Der „Brexit“ hält Europa in Atem. Seine Gegner befürchten das Auseinanderbrechen Großbritanniens und eine Gefährdung der EU; seine Befürworter bestehen darauf, daß die Mehrheit nun einmal „entschieden“ habe und eine solche Entscheidung der höchste Ausdruck der Demokratie sei und nun umgesetzt werden müsse. Während man den Brexit-Gegnern aber bestenfalls vorwerfen kann zu verhindern, daß Großbritan­nien etwas mehr Souve­ränität erlangt, ist das Denken der Befürworter ungleich gefährlicher: Es untergräbt die Demokratie an sich.

Diese Einschätzung mag auf den ersten Blick überraschen, aber wie problematisch die Argumentation der Brexit-Befürworter ist, ist einfach zu verstehen. Bereits Platon hat auf das Paradox hingewiesen, daß eine demo­kratische Mehrheit dafür stimmen könnte, einen Tyrannen einzusetzen und so die Demokratie abzu­schaffen. Die Interpretation von Demokratie als „Was die Mehrheit entscheidet, ist umzusetzen“ führt sich also selbst ad absur­dum. Wer rational denken und handeln möchte, muß sie aufgeben. Und das ist kein bloß abstrakt-theoretischer Ein­wand, der nichts mit der Praxis zu tun hätte: Der Schutz von Minderheiten vor dis­kriminierenden staatlichen Handlungen und Gesetzen ist der offensichtlichste Ausdruck davon, daß auch in der Praxis Demo­kratie nicht mit Majoritarismus gleichzusetzen ist.

Das Paradox der Freiheit

Tatsächlich ist dieses Paradox der Demokratie nur ein Spezialfall des Paradoxons der Freiheit: Absolute, schran­kenlose Freiheit kann es nicht geben, da sie dazu führen würde, daß derjenige mit mehr Macht die Freiheit der weniger Mächtigen immer weiter einschränken könnte. (Gleiches gilt im übrigen für Toleranz: Sind wir auch gegenüber demjenigen tolerant, der die Toleranz selbst abschaffen will, wäre das das Ende der Toleranz.) Die Lösung dieses Problems ist Kant zu verdanken und einfach beschrieben: Freiheit muß dadurch beschränkt sein, daß sie für alle gleichermaßen zu gelten hat.

Was kann unter diesen Voraussetzungen „Demokratie“ überhaupt heißen? Eine rein subjektive Definition (der Wille der Mehrheit) ist ausgeschlossen, an ihre Stelle tritt eine objektive (Sicherstellen gleicher Freiheit für alle). Freiheitsrechte haben nun allerdings eine Besonderheit: Sie zwingen niemanden dazu, sie aus­zuüben – sie sind noch nicht einmal an den Willen dazu gebunden –, sondern sichern nur jedem zu, sie ausüben zu können. Und hieraus folgt etwas Fundamentales – und dem vorherrschenden Demokratie­verständnis Zuwiderlaufendes: Demokratische Legitimation besteht nicht darin, daß eine Mehrheit etwas beschließt oder daß alle Bürger sich tatsächlich an einer Entscheidung beteiligen; sie besteht darin, daß sie dem Sicherstellen der Freiheit aller dient und daß eine Beteiligung an der Entscheidung allen möglich ist. Und Wahlen sind auch nur eine mögliche Form der Entscheidungsfindung. Andere, nicht-majoritäre Pro­zesse, die explizit an objektive Kriterien gebunden sind, sind denkbar und manchmal auch schon gedacht worden – es fehlt nur an einer breiteren Diskussion darüber.

Aufgeklärte Demokratie

Das hier vertretene Verständnis von Demokratie steht in der Tradition der Aufklärung und des klassischen Liberalismus. Es könnte dabei nicht verschiedener sein von dem, das dessen Gegner häufig „Neolibe­ralismus“ und dessen Anhänger häufig „Libertarismus“ nennen und dessen Ziel der Abbau jeglicher Schranken der Freiheit, jeg­licher Regulierung ist. Und das hier vertretene Verständnis von Demokratie ist eng verbunden mit dem Begriff der „Offenen Gesellschaft“, geprägt von Karl Popper, dem austro-britischen Philosophen. Diese liberale, aufkläre­rische Offene Gesellschaft ist eine, die „die kritischen Fähigkeiten des Menschen freisetzt“ und die ihren Mitglie­dern Entscheidungen nicht abnimmt, sondern selbständiges Den­ken geradezu einfordert.

Selbständiges Denken ist – in Kants berühmter Beantwortung der Frage „Was ist Aufklärung?“ – nun gerade solches, das ohne ein Berufen auf diese oder jene Autorität auskommt, sei es ein heiliges Buch, ein ver­meintlicher Experte oder die angebliche Objektivität unserer Sinne. Nur wie geht das, den Einfluß von Auto­rität systematisch auszuschließen? Auch hier geht die Lösung auf Popper zurück, der als erster sowohl das Problem in seiner ganzen Tragweite erkannte als auch eine systematische Lösung ausarbeitete. Sie lautet kurz gesagt: Da es keine unfehl­baren Quellen des Wissens gibt und Induktion (das Schließen von einer endlichen Anzahl von Fakten auf allge­meine Gesetzmäßigkeiten) logisch ungültig ist, können wir uns nur deduktiver Logik bedienen, die immerhin Widersprüche aufdecken kann: z.B. daß eine Idee mit bestimmten Fakten unvereinbar ist. So können wir immer­hin zu immer besserem Wissen gelangen.

Eine Gesellschaft lebenslanger Lerner

Wissensfortschritt können wir da erzielen, wo wir vor einem (intellektuellen) Problem stehen: wo bestimmte Phänomene der Welt (Fakten) in Widerspruch zu unseren bisher besten Erklärungen (Theorien) stehen. Eine sol­che Theorie könnte sein, daß sich Bestrafung motivationsfördernd und leistungssteigernd auswirkt – z.B. in Form von leichten Schlägen auf den Hinterkopf in der Schule oder von Sanktionen gegen Arbeitsuchende, die einen vorgeschlagenen Job ablehnen. Nun wäre es möglich, durch einen geeigneten Vergleichstest herauszufinden, daß eine Gruppe, in der theoriekonform bestraft wurde, tatsächlich weder motivierter noch leistungsstärker ist als eine Kontrollgruppe. An dieser Stelle ist es möglich, sich durch Logik zu einer Ent­scheidung zwingen zu lassen: bestimmte Fakten anzuzweifeln oder zu akzeptieren, daß bisherige Theorien fehlerhaft sind und wir etwas dazu­lernen müssen. (Ohne eine kritische Haltung, die verhindert, daß man z.B. selektiv solche Fakten anzweifelt, die den eigenen Vorurteilen widersprechen, ist aber auch Logik machtlos.)

Ein Problem steht so gesehen am Anfang jedes Lernprozesses: Ist ein Problem identifiziert und hinreichend genau charakterisiert, kann eine Lösung (eine neue Theorie) vorgeschlagen und einem kritischen Test (Fehler­eliminierung) unterzogen werden. Dann präsentiert sich womöglich ein neues Problem, und der Prozeß beginnt erneut. So erklärt sich, daß dem Wissensfortschritt keine prinzipiellen Grenzen gesetzt sind und Lernen lebens­lang möglich ist.

Kritisch-rationale, aufgeklärte Politik

Eine Politik für eine der Aufklärung verpflichtete offene Gesellschaft, deren Ziel es ist, die (liberal verstan­dene) Freiheit zu schützen und nach Möglichkeit auszuweiten, hat bestimmten methodischen Kriterien zu genügen. Ausgehend von objektiven Problemen, offen für jegliche Kritik, sucht sie nicht nach einer utopi­schen perfekten Lösung, sondern nach immer besseren Lösungen. Wie kann so etwas aber konkret aus­sehen? Betrachten wir drei realistische Fälle:

Fall 1: In einer ostafrikanischen Region ist die Kindersterblichkeit durch Malaria sehr hoch – daß das der Freiheit der Menschen entgegensteht, braucht kaum weiter ausgeführt zu werden. Vorgeschlagene Lösun­gen sind u.a. kostenlose Moskitonetze auszugeben, sie zu einem subventionierten Preis abzugeben oder bloß sicherzu­stellen, daß zum Marktpreis genügend Angebot besteht. In einer randomisierten Studie lassen sich die zugrunde­liegenden Erklärungsmodelle kritisch testen: Es sind Studienausgänge möglich, die klar zeigen, daß nur eine der getesteten Theorien mit den relevanten Fakten vereinbar ist.

Fall 2: Eine Wirtschaftskrise bedroht das Bankensystem und damit die wirtschaftliche Grundlage einer freien Gesellschaft. Sollte man dem Vorschlag folgen, die Banken mit staatlichen Geldern zu retten, oder dem Alter­nativvorschlag, manche Banken pleitegehen zu lassen? Hier kann z.B. eine Computersimulation helfen, die vielen beteiligten Variablen in einem Modell zu vereinigen und verschiedene Szenarien durchzuspielen. So könnte sich zeigen, daß sich eine Variante anders verhält, als deren Anhänger behaupten – und man müßte sich nicht darauf verlassen, daß Experte X schon Recht haben wird, daß Ideologie Y immer die besseren Lösungen bietet oder daß wir Z tun sollten, weil wir das schon immer so gemacht haben.

Fall 3: Eine immer stärker automatisierte und digitalisierte Wirtschaft und der demografische Wandel legen den Schluß nahe, daß ein umlagefinanziertes Sozialsystem, das auf Erwerbsarbeit als Paradigma beruht, irgend­wann nicht mehr tragbar ist. Eine Theorie, die auf die Mündigkeit von Bürgern abstellt, legt als Hand­lungs­option ein bedingungsloses Grundeinkommen nahe; eine zweite, die davon ausgeht, daß die mensch­liche Natur die Bürger in Massen dazu verleiten würde, sich auf die faule Haut zu legen, legt als Hand­lungsoption nahe, Sozi­alleistungen zu kürzen und Sanktionen einzuführen, um Bürger zu motivieren eine Erwerbsarbeit aufzunehmen. Hier ließe sich z.B. in Pilotprojekten einzelner Kommunen oder Regionen testen, ob die befürchteten negativen bzw. die vorhergesagten positiven Effekte tatsächlich eintreten.

Eine solche Politik tut zwei Dinge: Sie orientiert sich konsequent an objektiven Problemen und läßt sich an objektiven Kriterien messen; und sie ermutigt und unterstützt jegliche objektive Kritik, so daß bessere von schlechteren Lösungen unterscheidbar werden. Und eine solche Politik hat die große Chance, auch die Teile der Bevölkerung wieder für eine Beteiligung am Lösen gesellschaftlicher Probleme zu interessieren, die sich von der jetzigen Politik abgestoßen fühlen, die hauptsächlich am Befriedigen des eigenen Egos, bestimmter Partikular­interessen oder des Parteigehorsams orientiert zu sein scheint. Die Politik einer offenen Gesellschaft ist dagegen nicht einfacher und nicht bequemer. Aber sie ermöglicht die kritische Beteiligung aller, zum Wohle aller: echte Demokratie.

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