Bessere Schule – eine Beleidigung für Lehrer

In der „Zeit“, dem Sprachrohr der eliteaffinen Mittelschicht, ist man von Hause aus schon nicht sehr revolu­tionsfreundlich gestimmt. Und gerade wenn es um Bildung geht, die man als Autor und Leser der „Zeit“ ja eh mehr als genug genossen hat und dank derer man in der Regel auch erfolgreich geworden ist, behält man im Angesicht tiefgreifend systemkritischer Ideen nur mühsam die Fassung. So ließe sich jedenfalls erklären, warum bereits auf so handzahme Kritiker wie Richard David Precht oder Gerald Hüther eine so vehemente Reaktion erfolgt.

In der Ausgabe vom 29.8. stürmt nun Martin Spiewak heldenhaft die Barrikaden der „Bildungsrevoluzzer“. Auf denen sitzen Hüther und Kumpanen und rufen ihre Kampfparolen, wie z. B. daß die Schule „irreparabel krank“ ist und eine „Dressureinrichtung“ für „gehorsame Pflichterfüller“. Spiewak schwillt da so sehr der Kamm, daß er sich gleich zum Sprecher aller Lehrer aufschwingt und in heiliger Empörung ruft: „Da müssten eigentlich alle Lehrer beleidigt aufschreien.“ Schließlich gebe es doch „unzählige Lehrer, die sich anstren­gen, den Schulalltag zu verbessern“.

Und überhaupt, wer sei denn dieser Hüther, der „weder ordentlicher Professor“ sei noch „auf eigene empi­rische Forschung zum Thema Schule verweisen“ könne. Letztlich doch nur ein Scharlatan, der „mit gewagten Diagnosen und Vorschlägen für bizarre Kuren zur Rettung des angeblich todkranken Patienten Schule“ beim tumben Volke auf Beifall stößt. Eigentlich auch beleidigend, das Volk als dem Rattenfänger hinterher­laufende Unmündige dazurstellen, aber im Dienste der Verteidigung des Status Quo ist das wohl erlaubt. Mit „windigen Thesen“ zieht dieser Scharlatan durchs Land, der – und das kann nicht oft und wortreich genug beschrieben werden – ja nur ein außerplanmäßiger Professor ist, sprich: ja nur ein besserer Wissenschaft­licher Mitarbeiter der Uni Göttingen. Und der wagt es dann auch noch, ein „begnadeter Redner“ zu sein, bei dem „der Saal jubelt“ – man kann den Sportpalast beinah fühlen, den Spiewak sich vorzustellen scheint, wenn er an eine Hüther-Rede denkt.

Was ist dieses gefährliche Gedankengut? Die „Botschaft von dem guten Kind und der bösen Gesellschaft mit ihren Zwangsanstalten“ zum Beispiel, oder „die Hoffnung, dass es doch eine andere Welt gibt. Eine Welt, in der die Schüler ganz von alleine einsehen, dass sie sich anstrengen müssen.“ Und daß „Lehrer nicht mehr Lehrer sind, sondern Coachs und, ja, Freunde.“ Ganz abgesehen davon, daß die Formulierungen keine Zitate von irgendwem sind, sondern Spiewaks eigennützige Interpretationen: Schrecklich, eine Welt, in der man tatsächlich nicht mehr mit Belohnung und Bestrafung (und sei es nur in Form von Noten) das ge­wünschte Wohlverhalten herbeiführen kann. Nur dieses Argument (daß Noten etc. genau zu diesem Effekt führen) ignoriert Spiewak geflissentlich – wie alle anderen Argumente für ernsthafte Veränderungen in unse­rem Bildungssystem.

Stattdessen stellt sich Spiewak auch noch selbst als großer Lehr-Experte hin, dem seltsamerweise aber nur das Argument „Das geht alles gar nicht, weil ich es mir nicht vorstellen kann“ einfällt:

Die Bildungsprediger nähren alle dieselbe Illusion. Mit Verweis auf die Hirnforschung sug­gerieren sie: Kinder wollen lernen – aber die Schule hindert sie daran. Das Problem, dass englische Vokabeln oder der Dreisatz anders gelernt werden müssen als Krabbeln und Laufen, lösen die Bildungsgurus in pädagogischer Poesie auf. Für Hüther heißen die zen­tralen Metaphern „Begeisterung“ und „Potenzialentfaltung“. In jedem Vortrag kommen sie vor. Denn was man mit Begeisterung lerne, bleibe hängen, sei „Dünger fürs Hirn“.

Bezeichnend, daß „Begeisterung“ und „Potenzialentfaltung“ für Spiewak ein solcher Firlefanz sind, daß man sie nur in Anführungszeichen benutzen kann. Daß er meint, den Dreisatz könne man nicht auch spielerisch lernen, zeigt nur, wie komplett ahnungslos er von den Möglichkeiten ernsthafter Pädagogik ist. Und daß jemand in einer großen Zeitung über Bildung schreiben kann, ohne zu wissen, daß es „eines der am besten belegten Ergebnisse der Psychologie ist“, daß man mit intrinsischer Motivation besser lernt und mit Antrieb durch Belohnung schlechter, ist nur noch peinlich. Aber der Große Experte weiß noch mehr:

Natürlich lernt sich im Wald oder an der Werkbank manches besser, als wenn man ein Lehrbuch liest. Nur lässt sich eine Partizipialkonstruktion leider nicht so lehren, dass es „unter die Haut geht“ (Hüther).

Was für ein Spinner. Als ob er das auch nur ein einziges Mal ernsthaft selbst probiert oder auch nur jeman­den gefragt hätte, der nicht schon von vornherein seiner Meinung war und sich eine Meinung dazu tatsäch­lich erlauben kann. (Ein eindeutiger Fall journalistischen Fehlverhaltens, btw.) Hier ist ein (notwendigerweise verkürztes) Beispiel:

Partizipialkonstruktionen kann ich wie üblich einführen und sagen: Man kann (z. B. im Englischen) Sätze bilden, die statt kompletten Sätzen nur eine verkürzte Form mit einem Partizip benutzen, wie in „Exhausted, he dropped the hammer“. Man muß aber aufpassen, daß im Hauptsatzteil dann das Subjekt nicht falsch zugeordnet wird (durch das gefürchtete „dangling participle“), denn das ist ein Fehler, den wir natürlich auch sanktionieren müssen.

Oder ich zeige (besser noch: lasse Schüler in authentischem Material suchen) ein paar Sätze nach dem Schema „Smiling broadly, he rushed up to his wife and kissed her“ – und zeige dann ein paar andere: „Riding along on my bicycle, the dog knocked me over“ oder „Running to catch the bus, Bob’s wallet fell out of his pocket“. Wo ist das Problem mit diesen Sätzen – oder besser: Warum sind sie lustig? Wie kann man sie formulieren, damit klar wird, was in ihnen eigentlich passiert? Und nicht nur wird mit „Spaß“ (ha!) erklärt, was die Formulierung tut, sondern Schüler müssen auch noch selbst auseinanderdröseln, was je nach Situation zu einer Gefahr für das Verständnis werden kann.

Natürlich kann man da jetzt sagen: Dann ist der Lehrer ja gar kein Lehrer mehr, sondern nur noch jemand, der wie eine Hebamme danebensteht, während die Entbindenden die ganze Arbeit leisten. Kann man – wenn man ein durch und durch autoritäres Verständnis von „Lehrer“ und „Lernen“ voraussetzt. Und wenn man nicht die geringste Ahnung hat, was man als Lehrer erreichen kann. Und wenn man ein unfaßbar zynisches wie schlicht falsches Bild davon hat, wie unfähig in der Regel Schüler sind.

Wenn hier jemand jemanden beleidigt, dann wohl eher Spiewak alle Lehrer – denen er unterstellt, genauso ahnungs- und einfallslos zu sein wie er selbst. Daß so jemand sich dann auch noch das Urteil anmaßt, jemand, der selbst keine Forschung (mehr) betreibt, ja wissenschaftlich nicht ernstzunehmen sei – natürlich ohne dessen Aussagen und Argumente überhaupt zu prüfen –, ist eine ziemlich bodenlose Unverschämt­heit. Und eine Zeitung, die einen Ruf zu verlieren hätte, würde einen solchen Artikel zurückziehen.

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  1. Und eine kurze Klarstellung, um einen vorhersehbaren Kommentar schon vorwegzunehmen: Manche von Hüthers Aussagen dazu, wie Hirnforschung bestimmte Forderungen zur Änderung des Bildungssystems stützen, sind in der Tat weit hergeholt. Das als Argument dafür zu benutzen, daß tiefgreifende Reformen Unsinn wären und nicht durch vernünftige Argumente zu stützen sind, ist allerdings unredlich – und allein von dieser Unredlichkeit handelt der obige Artikel.

  1. […] Erbloggtes von Der Bildungsbasar: […]

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