(Dieser Text erschien am 24. August 2012 im „Neuen Deutschland“)
Moderner Unterricht, so lernen es angehende Lehrer heute, ist schülerzentriert und kompetenzoriertiert. Auf deutsch soll das heißen, dass reines „Stoff Behandeln“ – vielleicht sogar nach Checkliste und auf fünf Minuten genauem Plan – ebenso der Vergangenheit angehören sollte wie vornehmlich Fachwissen reproduzieren zu lassen.
Wie sieht das konkret aus? Die Bildungsstandards für das Fach Mathematik beispielsweise sehen u.a. vor, dass Schüler „Probleme lösen“, „kommunizieren“ und dabei „mathematisch argumentieren“ können sollen. Stellen wir uns vor, wir hätten einen Schuhkarton, in dem zwei Gummibärchentüten übereinander liegen. Die Tüten scheinen von ihrer Fläche her ziemlich genau in die rechte Hälfte des Kartons zu passen und zu zweit längst nicht die halbe Höhe des Kartons zu erreichen. Die Frage ist nun: Passen in diesen Karton mehr als 1000 Gummibärchen? Nun lassen wir die Schüler erst einzeln über eine Lösung nachdenken, dann sollen sie kurz einem Mitschüler ihre Lösung beschreiben, und schließlich werden eine handvoll Lösungen im Plenum vorgestellt.
Ganz offensichtlich mussten die Schüler hier ein Problem lösen, kommunizieren und auch mathematisch (mit Mengen und Maßen) argumentieren. Und auch die Lösung ist ziemlich offensichtlich: Nebeneinander scheinen zwei Tüten zu passen, übereinander wohl problemlos fünf, und wenn wir jetzt noch annehmen, dass in jeder Tüte mindestens 100 Gummibärchen sind, ist die Antwort ein klares Ja. Hier scheinen wir ein gutes Beispiel für eine Aufgabe zu haben, die Kompetenzen ausbildet.
Nur was für Kompetenzen sind das? Die, bei einem vorgegebenen Problem (genauer: einer Aufgabe) den offensichtlichen (also letztlich auch vorgegebenen) Lösungsweg zu erkennen und so darzustellen, dass mathematisches Vokabular vorkommt. Damit sind die konkreten Kompetenzen abgeprüft – denken Schüler oder Lehrer dann noch weiter, ist das Glück. Wer also etwas ausbilden will, das substantiell darüber hinausgeht, was Schulunterricht in den letzten 50 Jahren schon immer gemacht hat, braucht eine andere Leitmetapher: Problemorientierung.
Kompetenzen haben nämlich einen entscheidenden Nachteil: Sie fokussieren uns auf konkrete Handlungen. Und diese Handlungen haben keinen eingebauten Maßstab dafür, ob und wann sie sinnvoll sind. Müssen die Gummibärchen in den Tüten bleiben? Warum überhaut ein Schuhkarton? Warum interessiert uns, ob mehr als 1000 Bären in den Karton passen? Auf all diese Fragen kann der Lehrer nur sagen: Weil das jetzt das Problem ist, das ich mir ausgedacht habe. Und dort liegt der Hase im Pfeffer: Kriegen die Schüler nur eine Aufgabe vorgesetzt, haben sie eben gerade kein Problem vor sich, sondern nur eine typische alte Lehrerfrage mit neuem Anstrich. Und typische Lehrerfragen nerven deswegen, weil jeder weiß, dass eine vorbestimmte richtige Antwort gesucht wird. Der vorprogrammierten mangelnden Schülerbeteiligung kann man noch mit Liebenswürdigkeit entgegenwirken – aber auch die kaschiert nicht mehr, dass kein ernsthaftes Lernen stattfindet.
Problemorientierung geht einen anderen Weg. Sie entspringt der Erkenntnis, dass wir letztlich nur an Problemen lernen: an Situationen, die uns in Erklärungsnot bringen; Phänomene, die uns nötigen, unser Denken neuen Ideen zu öffnen. Schon allein wenn wir neugierig sind, heißt das, dass wir uns etwas nicht (vollständig) erklären können. Dieser Ideenkonflikt ist ein Problem.
Bereits dieser überschaubare Kern der Idee der Problemorientierung bedingt zwei zentrale Aspekte des Unterrichts: Die Probleme, an denen wir lernen, müssen unsere eigenen sein (zumindest müssen wir sie uns zu eigen machen); und ein Problem ensteht für uns nur dort, wo wir erkennen, dass etwas nicht funktioniert.
Nehmen wir einmal an, ich habe eine Mittelstufenklasse, die bereits zwei bis drei Jahre Englisch hatten. Wo finden sich genug authentische Probleme zum daran Lernen? Zum Beispiel in englischen Büchern, die die Schüler sich natürlich selbst aussuchen – je mehr Vielfalt und echtes Interesse, desto besser. Nun wundert sich meinetwegen jemand darüber, dass Gegenwart und Vergangenheit zwar eigene Zeitformen haben, es bei Aussagen über die Zukunft aber drunter und drüber zu gehen scheint. Mal werden verschiedene Gegenwartsformen benutzt, dann wieder ganz eigene Verbalkonstruktionen. Wollen die Leute damit auch unterschiedliche Dinge ausdrücken? Also suchen wir mal alle möglichen Formen (in immer leicht anders gelagerten Beispielen) und versuchen, sie zu kategorisieren. Dabei werden viele Vorschläge nicht funktionieren – ein perfekter Anlass, Gegenvorschläge tatsächlich zu diskutieren, bis man eine gute Erklärung gefunden hat. Als Bonus sieht man relativ bald, dass man es nur mit mehr oder weniger guten Modellen zu tun hat, aber nie mit perfekten.
Im Deutschunterricht gehe es dagegen um folgendes Problem: Vor einem Berufspraktikum unserer Schüler laden wir eine handvoll Firmenvertreter ein, die uns erklären, wie sie Bewerbungen beurteilen. Was kommt gut an, was sind absolute Ausschlusskriterien? Nicht nur sehe ich hier vielleicht sofort, bei wem ich mich bewerben möchte – es werden auch aufschlussreiche Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Beurteilung zu Tage treten. Mit diesem Wissen kann man auch andere Firmen anschreiben und sie offen nach ihren Kriterien für eine erfolgreiche Bewerbung fragen. Und nachdem dann echte Bewerbungen geschrieben wurden, geben unsere Firmenvertreter eine Rückmeldung dazu, wie gut die Kandidaten den Kriterien entsprochen haben: eine wertvolle Lektion darin, wie Beurteilungen tatsächlich ablaufen und dass bei guten Kriterien im Prinzip jeder befähigt ist, die Beurteilung selbst vorzunehmen.
Dieser letzte Punkt ist entscheidend für die Problemorientierung. Wenn man selbständig Probleme finden können soll, muss man auch selbst einschätzen können, was ein Problem ist. Es erkennen ist das eine; es auch so beschreiben können, dass andere es verstehen, ist mindestens ebenso wichtig. Unabhängigkeit (von einer Autorität, die mir vorschreibt, womit ich mich zu beschäftigen habe) und zielgerichtete Kommunikation (Verstehen in anderen erzeugen) folgen aus diesem Ansatz automatisch als Lernziele. Es fehlen dann nur noch das kreative Erzeugen alternativer Erklärungsmodelle sowie das empirische Ausprobieren dieser Modelle, um sie beurteilen zu können.
In Mathematik sieht das nicht anders aus: Die natürliche Neugier von Kindern über Zahlen und Formen und die erstaunlichen Muster, die man in ihnen entdecken kann – aber eben auch selbst entdecken muss –, lassen sich umstandslos dafür benutzen, Schüler selbständig nach Formalisierungen (also konzeptionellen Vereinfachungen) suchen und auch ihre Beweise selbst führen und kritisch rational beurteilen zu lassen.
Das alles braucht ein bisschen Abenteuerlust und den Mut, auch Zeit einzusetzen. Die Belohnung dafür sind nachhaltige, aussagekräftige Ergebnisse und aus sich heraus motivierte Schüler, die nicht nur angepasste Reproduzierer werden, sondern mündige Lerner.
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