[Veröffentlich in „Neues Deutschland“ am 29. Juni 2012]
Ein Rezensent schrieb 1868 über Darwins Ursprung der Arten: „Herr Darwin scheint in einer seltsamen Umkehrung des Denkens die Abwesenheit jeglichen Wissens für geeignet zu halten, an die Stelle absoluter Weisheit in allem schöpferischen Schaffen zu treten.“ Treffender hätte es der Kritiker nicht ausdrücken können. Es ist in der Tat Darwins großes Verdienst, ein meist unhinterfragt hingenommenes Vorurteil vom Kopf auf die Füße gestellt zu haben: Bewußtsein ist nicht der Anfang jeder Schöpfung, sondern es entwickelt sich ebenso über die Zeit wie alle anderen komplexen Eigenschaften des Lebens.
Auch in der Bildung täten wir gut daran, das eine oder andere Vorurteil einmal umzukehren, um unser Denken in neue Bahnen zu lenken. So reden wir immer noch häufig genug von Lehrplänen und Lehranstalten – obwohl wir doch eigentlich an das genaue Gegenteil denken sollten: wie und wo gelernt wird. Das eine Denken fokussiert darauf, was ein Lehrer tut – das andere darauf, was im Kopf eines Schülers passiert.
Ein anderes gern zitiertes Klischee mit offensichtlichem Bildungsbezug ist „Wissen ist Macht“. Und daran sind gleich zwei Dinge auf sehr instruktive Weise falsch. Zunächst ist meist klar impliziert, dass man Macht über andere hat – obwohl sie einem von anderen in Wirklichkeit gegeben wird. Verweigern die meinem Anspruch ihre Zustimmung, ist meine „Macht“ schlagartig verschwunden. Und das zeigt auch gleich, was das Sprichwort noch impliziert: Ich kann anderen meine Macht sozusagen aufzwingen, wenn ich Wissen habe, das die anderen nicht haben. Was auch gleich erklärt, warum die meisten Menschen daran interessiert sind, ein bestehendes Wissensgefälle aufrechtzuerhalten und damit ihre Autorität zu verteidigen.
Zweitens ist tatsächliches, objektives Wissen nur auf einem Weg zu erlangen, der keine Autorität anerkennt. Kein persönlicher Status und keine angebliche persönliche Objektivität können als Kriterium dafür dienen, was als Wissen gilt. Objektivität erlangt Wissen allein dadurch, dass der Prozess dahin offen ist für schonungslose Kritik. Und auch dem Wissen selbst können wir keine Autorität zuschreiben, denn gesichertes Wissen ist uns nicht zugänglich: Wissen ist immer nur vorläufig und höchstens das beste, das wir uns angesichts unserer modernsten Problemstellungen vorstellen konnten. Neue Erkenntnisse können auch unser bestes Wissen jederzeit vor neue Probleme stellen, denen es nicht standhält.
Nun verstehen wir uns nicht erst seit wir das 21. Jahrhundert schreiben als aufgeklärte Menschen und Gesellschaft. Aufklärung aber war in jeder ihrer Formen eine Rebellion gegen Autorität: die der Kirche, die der absoluten Fürsten, die der quasi unfehlbaren Autoren der Antike. Kants Wort vom „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ als Definition der Aufklärung ist kaum anders als als Bildungsauftrag zu verstehen. Für sich selbst zu denken, statt sich der Autorität anderer zu unterwerfen, ist das Merkmal eines aufgeklärten Menschen. Bildung heißt unter dieser Prämisse automatisch, Autorität aktiv untergraben zu lernen und Wissensgefälle zu vermeiden und nach Kräften abzubauen.
Etwas wissen heißt, eine gute Erklärung für ein Phänomen zu haben und sie zu verstehen. Wissen ist aber immer relativ: zu anderen, schlechteren Erklärungen und zu den Problemen, die uns veranlasst haben, überhaupt nach einer Erklärung zu suchen. Wer sein Wissen vermehren – etwas lernen – will, muss also notwendigerweise zwei Dinge können: die Probleme verstehen, die uns eine Erklärung abverlangen, und beurteilen können, welche Erklärungen besser sind als andere. Und noch eins: Er muss darauf vorbereitet sein, jederzeit veraltetes Wissen aufzugeben und sich besseres anzueignen, denn es ist das unvermeidliche Schicksal allen Wissens, irgendwann nicht mehr gut genug zu sein.
Was bedeutet das nun für unsere Lerninstitutionen? Zunächst einmal die Notwendigkeit, sich von liebgewonnenen Sicherheiten zu verabschieden. Lehrer zum Beispiel würden Respekt nicht mehr aufgrund ihrer „Autorität“ einfordern, sondern erst einmal das eigentlich Selbstverständliche außer Frage stellen: dass jedem Menschen Respekt gebührt, und zwar einfach nur, weil er Mensch ist. Und darüber hinaus verdient sich der Lehrer mehr Respekt, indem er andere zu mehr Wissen und mehr Mündigkeit bringt – sie zu besseren Menschen macht.
Es bedeutet aber noch mehr: Wir lernen notwendigerweise an Problemen. Es gibt weder absolutes noch abstraktes Wissen. Und sowohl neue Probleme als auch bessere Erklärungen können von jedem ausgedacht werden. Neues Wissen entsteht immer aus nicht rechtfertigbaren Vermutungen – die Methodik der kritischen Begutachtung ist zwar ebenso zentral, aber erst der zweite Schritt. Wissen entspringt zu allererst aus Kreativität.
Unser erstes Ziel in Schulen und Universitäten muss es also sein, Kreativität zu bewahren und zu fördern. Und Kreativität ist per Definition nicht einfach standardisierbar. Für die Lernsituation heißt das: Es gibt keine Einheitsgröße, die allen passt. Lernen ist zudem sowohl persönlich als auch sozial. Niemand kann etwas für mich verstehen: Verstehen ist etwas Privates, das im eigenen Kopf stattfindet – auf fast so viele verschiedene Weisen, wie es verschiedene Menschen gibt. Und wenn ich sicherstellen will, etwas wirklich verstanden zu haben, gibt es keinen besseren – keinen anderen – Weg als kritisches Testen, das darin besteht, es jemand anderem zu erklären.
Es wird also Zeit, darüber nachzudenken, wie Autorität, Gleichmacherei und simplistische Standardisierung durch ein problemorientiertes Fokussieren auf Kreativität, Verstehen und Erklären ersetzt werden können. Und das bedeutet vor allem: Freiheit schaffen. Freiheit für Lehrer, auf Schüler eingehen und ihnen besonders nahestehende Problemstellungen verfolgen zu können – sprich: sich darauf zu konzentrieren, was in den Köpfen der Schüler passiert. Und Freiheit für Schüler, ihre eigene Kreativität zu entdecken. Was dann vergleichbar ist, ist etwas ungleich Interessanteres als vorgegebene Ergebnisse: Unsere Erklärungen sowie die Methodik, die wir anwenden, um sie zu begutachten. Und wieviel menschlicher macht uns die Erkenntnis, dass Wissen untergräbt, was uns spaltet – und gleichzeitig Respekt und Gemeinsamkeit fördert, die uns überhaupt erst zu einer Gesellschaft machen.
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