Lernen durch Qualitative Bewertung

Ein Blick in die Zeitung bietet jeden Montag verschiedene Bewertungen. Im Sportteil lesen wir über Fußballspieler: Neuer „1“, Podolski „4“. Der Torwart hat wohl seine Aufgabe sehr gut gemacht, vielleicht kein Tor zugelassen, und der Stürmer hat vermutlich keine Tore erzielt. Doch was hat der Torhüter wirklich getan? Hat er vielleicht doch einen Ball durchgelassen, aber sich sonst gegen eine starke gegnerische Mannschaft behauptet? Hat der Stürmer wirklich gar kein Tor erzielt oder hat er zwar getroffen, aber sonst keinen Teamgeist bewiesen? Es braucht also mehr Differenzierung, um mehr über das Spiel zu erfahren und damit auch auf beiden Seiten etwas zu lernen. Ein Fußballspiel ist schon durch die vielen Beteiligten und den verschiedenen Regeln sehr komplex und dauert dazu mindestens 90 Minuten. Dadurch ergibt sich eine Mehrdimensionalität, die von einer eindimensionalen Bewertung nicht erfasst werden kann.

Allerdings werden heute genau so in den meisten Bildungseinrichtungen Lernprozesse bewertet. Persönliche Entwicklung, Talent und andere Voraussetzungen werden selten berücksichtigt. Es wird lieber nach leicht messbaren eindimensionalen Standards bewertet. Das führt zu einer Gesellschaft, in der es wichtiger ist, die bestmögliche Note zu bekommen und diesem Ziel alles andere unterzuordnen. Tiefgründiges Nachdenken oder Lösungswege erforschen werden selten belohnt. Schüler tun nur noch das, was nötig ist, um bei einem Test gut abzuschneiden. „[T]hey are adapting to an environment where good grades, not intellectual exploration, are what count.“ (Kohn, „From Degrading to De-Grading“) Dabei gibt es verschiedene nachgewiesene „Nebenwirkungen“. Das Interesse am Gelernten bleibt gering, da es nur Mittel zum Zweck ist. Es handelt sich bei dem Gelernten um kurzlebiges Wissen, das meist den nächsten Leistungserfassungsprozess nicht überdauert. Außerdem gibt es einen größeren Hang zum Betrügen, um ohne großen Aufwand das eigentliche Ziel – eine gute Note – zu erreichen. Kreativität verkümmert, weil kaum eigenständiges, tiefes Nachdenken oder intensives Auseinandersetzen mit einem Problem gefordert wird, eher sogar nur Problemlösungswege auswendig gelernt werden.

Mit einer, wie oben beschriebenen, quantitativen Bewertung, wird allzu häufig versucht, komplexe Vorgänge, zu denen auch „Lernen“ gehört, messbar zu machen. Um möglichst einfach messen zu können, werden Standards oder Ziele formuliert, zu einer bestimmten Zeit und jeder auf die gleiche Art gemessen. Das wird aber einem mehrdimensionalen Prozesses, an dem Individuen beteiligt sind, nicht gerecht. Überhaupt ist fraglich, inwieweit eine Zahl ausdrücken kann, welche Stärken und Schwächen oder welches Potential eine Person hat.

Im besten Fall sagt eine qualitative Bewertung aber nicht nur dem Lehrer, was seine Schüler können, sondern gibt auch den Schülern Erkenntnis, ob sie Ideen wirklich verstanden haben und wo Unklarheiten existieren. Sie benennt Fakten und damit verbundene Effekte, die Denken in neuen Zusammenhängen ermöglicht und so neue Fragen aufwirft und ist damit die Voraussetzung für Lernen.

Was ist eigentlich Lernen? Alfie Kohn definiert Lernen so:

Learning isn’t a matter of acquiring new information and storing it on top of the information we already have. It´s a matter of coming across something unexpected, something that can´t easily be explained by those theories we´ve already developed. To resolve that conflict, we have to change what we previously believed. We have to reorganize our way of understanding to accommodate the new reality we´ve just encountered.

Es geht also beim Lernen nicht darum, Wissen anzuhäufen, sondern sich kritisch mit neuen Dingen auseinanderzusetzen. Wenn nötig, werden vorherige Denkmodelle über Bord geworfen und durch neue Annahmen ersetzt, die neue Fragen aufwerfen. Diese Denkmodelle sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Dadurch wird Lernen ein lebendiger, individueller Prozess, der nie endet. „We make sense of things and then remake sense of things, and we do it from infancy to death.“ (Kohn)

In diesem Zusammenhang wird oft von „lebenslangem Lernen“ als Bildungsziel gesprochen. Damit ist die qualitative Bewertung eng verknüpft. Denn nur diese nennt relevante Fakten, damit verbundene Effekte und setzt diese in einen größeren Zusammenhang – und ermöglicht dadurch erst Lernen. Allerdings steckt in der qualitativen Bewertung mehr als nur dieses eine zentrale Bildungsziel.

3 comments

  1. ganz entscheidend ist eben bei Lernprozessen der Sinn, der damit für die Lerner (und Lehrenden) verbunden ist. Vieles Wissen wird momentan so vermittelt, dass Schüler keinen Bezug zu ihrer Lebenswelt sehen und auch keinen Spaß daran haben. Dann kommen die erwähnten Leistungsbewertungen, die etliche Schüler noch zusätzlich abschrecken.
    Nur multidimensionale – multisensuelle Lerndesigns können den komplexen Anforderungen gerecht werden und SinnBildung ermöglichen.

    • Martin Appel on 1. March 2011 at 15:33
    • Reply

    Hmmm,
    problematisch sehe ich an dem Text, dass du Lernen gleichsetzt mit Bewertung und Berwertungssituationen. Schule bietet jedoch wesentlich mehr Möglichkeiten Lernen zu lernen – an Wissen – als dies durch Tests “erzwungen” wird.
    Meiner Meinung nach meinst du im Falle der Test, dass Schülerinnen und Schüler Wissen aufnehmen und lediglich für den Test speichern, hinterher wieder löschen. Das ist jedoch nur ein Teil der Aufgabe von Schule – nach meiner Auffassung ein kleinerer Teil. Wichtiger ist den Lernenden Methoden zu vermitteln, wie man lernen kann, wie man sich Aufgaben erschließen und lösen kann. Das ist die Aufgabe, die uns Lehrer im täglichen Umgang mit dem Unterricht beschäftigt. Sicherlich wollen wir auch Fakten vermitteln – aber ganz ehrlich, wer von uns weiß noch, was alles in Chemie rankam!?!?? Natürlich hat jeder auch seine Lieblingsfächer gehabt und dort mehr Interesse gezeigt. Die Aufgabe von Pädagogen sollte es sein, wissen “schmackhaft” anzubieten, so dass die Lernenden selbst gewillt sind, dieses aufzunehmen (und zu behalten).
    Mehr dazu auch mit dem Stichwort “Binnendifferenzierung”!
    1 Kommentar noch: Leistungsbewertung muss von den Schülerinnen und Schülern nicht immer negativ aufgefasst werden, wenn man Chancen, die der Unterricht bietet als Lehrer nutzt und Leistungserfassung im Interesse der Lernenden gestaltet!

    Zum Blog von Herrn Erdmann: “Gute” Lehrer versuchen stets den Lebensweltbezug herzustellen. Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass dies auch nicht immer einfach ist, wohl aber erlernt werden kann, wenn man sich als Lehrer genügend Mühe gibt.

  2. Ich denke, die Ideen sind sowohl interessant (also zum Weiterdenken anregend) als auch relevant (haben Bezug zu unserer gemeinsamen Realität und müßten Konsequenzen im Handeln haben). Was jetzt noch helfen könnte, wäre eine schlankere Darstellung der drei zentralen Punkte: die sehr beschränkte Aus­sagekraft eindimensionaler Bewertungen, warum Differenzierung unumgänglich ist und wie daraus neue Gelegenheiten zum Lernen entstehen können.

    Der Job des Eingangsbeispiels ist es, diese drei Punkte nicht nur zu benennen, sondern zu zeigen; beim ersten klappt das noch, beim zweiten müßte es m.E. um die Erklärung des „duo cum faciunt idem not est idem“ gehen (also warum man selbstverständlich an verschiedene Menschen in verschiedenen Situationen verschiedene Anforderungen stellt) und zuletzt wie man daraus auch noch neue Erkenntnisse gewinnen kann. Insbesondere letzteres kann ich noch nicht so richtig sehen.

    Dann bliebe nur noch, für diese Punkte erklärendes Material zu einer Argumentationskette zusammen­zufügen, die auf den zentralen Punkt hinausläuft: Qualitative Bewertung als Mittel zum Zweck „Lernen“. Einiges taugliche ist schon da, aber es darf ruhig noch mehr nicht direkt zielführendes aus diesem Teil verschwinden. Man muß ja nicht sofort und auf einmal alles sagen, was man weiß. 🙂

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